: Kinder im Dichtestress
Eltern in Niedersachsen dürfen ihre Kinder ein Jahr zurückstellen. Mit fatalen Folgen für die vollen Kitas
Von Simone Schmollack
„Wir gewinnen dadurch eine Entschleunigung für die Kinder“, hatte Stefan Politze, SPD-Abgeordneter im Niedersächsischen Landtag, im Februar 2018 verkündet, als der Landtag den flexiblen Einschulungstermin beschloss. Für Eltern eine willkommene Änderung des Schulgesetzes: Jetzt können sie Kinder, die zwischen 1. Juli und 30. September sechs Jahre alt werden, ein Jahr länger in der Kita lassen, bevor diese in die 1. Klasse kommen.
Womit weder Eltern noch Politiker*innen gerechnet haben dürften, tritt jetzt ein: Stau in den niedersächsischen Kitas. In Oldenburg etwa rechnen die Kitas mit 150 Mädchen und Jungen, die zusätzlich versorgt werden müssen – das sind etwa sechs Kindergartengruppen. Das setze die Stadt „noch mehr unter Druck“, sagt Sozialdezernentin Dagmar Sachse. Denn wie allerorten fehlen in Oldenburg Kitaplätze. Im kommenden Kitajahr werden es laut Stadtverwaltung 323 sein.
Damit noch nicht genug: Während die Zahl der bis zu Sechsjährigen in Oldenburg wächst, sinkt die der Dreijährigen. Trotzdem fehlen 481 Krippenplätze. Mit Folge für die Kinder: Jene, die im Sommer in die Kita wechseln sollten, bleiben aus Platzmangel in der Krippe.
In anderen Städten sieht es ähnlich aus. In Braunschweig rechnet das Sozialdezernat mit über 100 Kindern, die erst 2020 eingeschult werden. Im vergangenen Jahr nahmen Eltern von 110 Kindern das neue Recht in Anspruch. Um diesen Bedarf abzudecken, wurde 2018 eigens dafür eine neue Kita eröffnet. In Braunschweig steigt der Bedarf an Plätzen in Krippen, Kitas und Schulhorten – bei angespanntem Kommunalhaushalt, mangelndem Fachpersonal in den Einrichtungen und wachsender Einwohner*innenzahl, vor allem durch Zuzug junger Familien. „Der Ausbau der Kinderbetreuung bleibt ein Kraftakt. Wir sind an der Grenze dessen, was möglich und leistbar ist“, sagt Sozialdezernentin Christine Arbogast.
Damit scheint sich ein Trend vom Vorjahr fortzusetzen. Damals wurden dem Kultusministerium zufolge 2.871 Kinder zurückgestellt. Diese Zahl entsprach in etwa den Erwartungen des Ministeriums. Wie konkret es in diesem Jahr aussieht, konnte Sprecher Sebastian Schumacher noch nicht sagen. Die Zahl liege erst Ende August vor, wenn alle Anmeldungen ausgewertet seien.
Die strapazierten Kommunen erhalten Rückendeckung vom Niedersächsischen Städte- und Gemeindebund. Die Entscheidungsfreiheit für Eltern führe zu „erheblichen Unsicherheiten bei der Planung und leider auch höheren Kosten“, erklärte Sprecher Thorsten Bullerdiek der dpa.
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