Merkels Schwächeanfall in den Medien: Das große Zittern
Warum sehen Hunderttausende so gern zu, wenn es einer älteren Frau blümerant wird? Über den Nachrichtenwert von Unpässlichkeiten.
Eine Frau, kurz vor dem Eintritt ins Rentenalter, nimmt an einem beruflichen Meeting teil. Bei der Begrüßung, 30 Grad, pralle Sonne, wird gefilmt. Der Frau, so wird plötzlich klar, geht es nicht gut. Für einen Moment gibt es diese typische Verwirrung bei Notfällen, ob schon wer einen Arzt gerufen hat. Die Filmenden lassen jedenfalls sofort ihre Kameras sinken. Sie wollen natürlich helfen, aber vor allem wollen sie nicht draufhalten. Sie möchten vermeiden, für ein virales Video verantwortlich zu sein, dessen Nachrichtenwert in „Person des öffentlichen Lebens erleidet Schwächeanfall“ besteht.
Aber es ist natürlich alles ganz anders gekommen.
Das Video, um das es geht, war am Mittwoch auf den Nachrichtenseiten immerhin schon deutlich nach unten gerutscht. Laut dpa zeigt es folgende Szene: „Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat bei dem Empfang des neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erheblich gezittert. Während sie am Dienstag gemeinsam mit Selenskyj auf das Abschreiten der Ehrenformation der Bundeswehr wartete, begannen ihre Beine und ihr Körper heftig zu zittern. Als sie mit dem Präsidenten dann die Formation abschritt, hatte sich das Zittern sichtbar wieder gelegt.“
Und die Agentur schreibt weiter: „Die Kanzlerin hatte schon früher bei ähnlichen Gelegenheiten ein solches Zittern gezeigt – damals war als Ursache Wassermangel bei großer Hitze genannt worden.“
Es fehlt: der Nachrichtenwert
Die Regierungschefin eines der reichsten Länder der Erde hat also bei Hitze (und bei längerem Stehen in derselben) ein Gesundheitsproblem. Das ist die Sachlage. Obendrauf kommt die Spekulation: Möglicherweise ist sie ernsthaft erkrankt, wird ihr Amt vorzeitig abgeben müssen! Worüber allerdings ohnehin spekuliert wird, spätestens seit Merkel den CDU-Parteivorsitz im Dezember 2018 Annegret Kramp-Karrenbauer überließ.
Müssen wir als Staatsbürger noch mehr wissen? Mit der dpa gesprochen: ja und nein. Einerseits fragte man Alexander Schultze, seines Zeichens stellvertretender Leiter der Notaufnahme am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Der antwortet: Ein Flüssigkeitsmangel sei bei diesem Wetter nicht untypisch. Die Information, dass es Merkel nach drei Gläsern Wasser wieder besser ging, könne durchaus ein Hinweis darauf sein, dass es sich um ein kurzzeitiges Kreislaufproblem handele.
Andererseits, sagt der Mediziner Schultze, sich sozusagen selbst ins Wort fallend, jeder Patient habe das Recht, sich selbst auszusuchen, welcher Arzt ihn beurteilt oder behandelt. Sprich: Das ist nicht Aufgabe der dpa.
Merkel selbst ging bei der Pressekonferenz im Anschluss an den Staatsbesuch umstandslos und zügig von der Gesundheit („Es geht mir sehr gut“) gleich zur nächsten Frage über („Was die Maut anbelangt.“). Tun wir es ihr gleich: Warum zum Teufel wollen fast 280.000 Leute etwa auf dem YouTube-Kanal von RT Deutsch sehen, wie Merkel zittert?
Entscheiden Sie selbst!
Unterscheidet sich das in der ethischen Qualität von Gaffern, die Autobahnen blockieren, um bei Unfällen abgetrennte Gliedmaßen zu beglotzen und zu filmen?
Der britische Independent überschrieb einst einen Beitrag über die Spekulations- und Befeuerungsberichterstattung zu Hillary Clintons Gesundheitszustand während des US-Wahlkampfs 2016 mit „Hillary Clinton is so unwell it’s a wonder she is still alive“ – und das obwohl sie im US-Senat und Außenministerin war und sich zweimal ins Rennen um das höchste Amt begab.
In diesem Fall wäre wenigstens das Kampagnenhafte der Angelegenheit interessant genug – bei Merkel jedoch, einer scheidenden Regierungschefin, um die sich schon lange nichts mehr dreht, scheint das Draufhalten auf und Anklicken von diesem Zittern in tiefere Regionen der Niedertracht zu deuten, von der sich wohl die wenigsten unter uns freisprechen können.
Weltfremder Moralismus, die Sache hier glossierend zu problematisieren? Vielleicht. Der Verfasser jedenfalls hat sich das große Zittern nicht angetan, wie er auch bei anderen exklusiven, schrecklichen und spektakulären Videos sich auf die schriftliche Zusammenfassung des Nachrichtenwerts verlässt. Entscheiden Sie, wie Sie es selbst damit halten wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk