Kolumne Immer bereit: Schwarzfahrer im Regionalexpress
Ein Kulturkampf im Regionalexpress zwischen spanischen Hedonisten und einer deutschen Schaffnerin. Wer hat wohl gewonnen?
S onntagmittag im RE 5 aus Stralsund. Eine Woche Ostsee liegt hinter uns. Unser erster richtiger Familienurlaub. Oder, wie meine Freundin Frieda es ausdrückt: „Leben mit Kind woanders“.
Seit zehn Uhr sitzen wir im Zug. Je näher wir Berlin kommen, desto voller wird es.
Wir haben das Fahrradabteil seit Stralsund mit zwei anderen Familien geteilt. Ein hellgelber Teppich aus Maiswaffeln bedeckt nun den Boden, der ohnehin zu kleine Mülleimer ist mit Windeln in drei verschiedenen Größen vollgestopft und an einer Stelle ist die Fensterscheibe ein bisschen blind, da klebte kurzzeitig mal eine Butterschrippe dran.
Gerade als endlich alle Kinder schlafen, hält der Zug in Eberswalde, die Türen öffnen sich und mit einem herzlichen „La Puta madre“ rammelt ein halbes Dutzend unfrisierter, unrasierter und ungewaschener Spanier in unser Kinderparadies. Sie haben zwei Fahrräder dabei, die sie quietschend zwischen die Kinderwagen quetschen.
Mörderische Elternblicke hageln auf die Erasmus-Studenten ein und zersplittern an den Panzern jugendlicher Fröhlichkeit zu einem Regen aus tausend Sternchen.
Die spanischen Mädchen klettern aufs Oberdeck des Zuges, die Jungs bleiben bei den Fahrrädern. Und uns. Wie schön!
Sie haben sich viel zu erzählen. Das Spanisch rattert wie der Marsch auf einem Jahrmarktsumzug aus ihren weich geschwungenen Mündern. Darram dadadadamm, Darram dadadadamm. Das ist der Sound von Friedrichshain. Ein Flair von Warschauer Brücke weht durch den Wagen.
Die Schaffnerin kommt. Eine resolut-freundliche Person, die wahnsinnig schnell herrlichsten Berliner Dialekt sprechen kann. Zumindest in meinen Urlaubsohren. Ich muss meine Wahrnehmung erst wieder auf Großstadtniveau hochfahren.
„Die Fahrkarten bitte!“, sagt die Schaffnerin.
Einer der Jungs fummelt ein zerknittertes Stück Papier aus seiner Hosentasche, das aussieht, als ob es seit gestern viel erlebt hätte.
Die Schaffnerin wirft einen Blick drauf und sagt: „Ja, ditt is von jestern.“
Die Jungs gucken sich an und reden dann gleichzeitig auf die Schaffnerin ein. Sie bleibt seelenruhig und sagt: „Ick versteh keen Wort. Sie brauchen ein Ticket. Spricht jemand Deutsch?“
Eines der Mädchen kommt mit wehenden schwarzen Locken die Treppe heruntergepoltert.
„Sie wollen nicht bezahlen“, beginnt sie zu erklären.
Die Schaffnerin lacht. „Ditt gloob ick ihnen“, sagt sie fröhlich. „Müssen se aber. Ditt is nemich keen Wunschkonzert.“
„Sie haben Tickets“, erklärt das Mädchen. Der größere der beiden Jungs wedelt mit dem Fahrschein.
„Ditt Ticket is von jestern“, erklärt die Schaffnerin mit Engelsgeduld. „Sie brauchen aber eens von heute.“
„Aber gestern nicht kontrolliert“, wendet das Mädchen ein.
Ach, daher weht der Wind, murmele ich.
Die Schaffnerin versteht jetzt auch.
Sie holt tief Luft, strafft sich ein wenig, spricht ein stilles Entspannungsmantra und beginnt zu erklären.
Ein Schwall aus deutschen zusammengesetzten Substantiven in allerfeinster Berliner Aussprache prasselt auf die spanisch sprechenden Hedonisten nieder.
Beförderungsentgelt, Gruppenticket, Länderticket, Fahrradmitnahme. Nahverkehr.
Die Spanier stehen eingeschüchtert da und verstehen kein Wort.
„Sie kaufen ditt Ticket ja nich für mich“, sagt sie, „sondern damit Sie befördert werden. Davon bezahlen wir den Ausbau der Schienen, die rollstuhlgerechten Toiletten, die Reinigungskräfte, die Wartung der Fahrkartenautomaten. Sie kaufen ditt doch nich für mich.“
Am Ende erwerben die Spanier brav ihre Tickets, sogar für die Fahrräder. Der Poesie deutschen Bürokratenvokabulars haben sie schlicht nichts entgegenzusetzen.
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