Fälschungen einer Bloggerin: Absurditäten und Phantasmen
Eine Bloggerin täuschte die Öffentlichkeit mit einer Vita als Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden und Gründerin einer „Slumklinik“.
Der nationalsozialistische Mord an den europäischen Juden ist in all seinen Grausamkeiten wissenschaftlich recherchiert und bestens dokumentiert. Eine wichtige Rolle spielt dabei die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Das Archiv umfasst 210 Millionen Seiten Dokumente, ungefähr 500.000 Fotografien und 4,8 Millionen Namen von Opfern. Seit den Fünfzigerjahren bietet die Gedenkstätte für Verwandte und Freunden von Ermordeten die Möglichkeit, sogenannte Gedenkblätter einzureichen.
Der Spiegel berichtet nun, dass die in Dublin lebende deutsche Historikerin und Bloggerin Marie Sophie Hingst 22 dieser Gedenkblätter gefälscht und Yad Vashem getäuscht habe. Diese suggerieren, dass der Großteil ihrer Familie im Holocaust ermordet wurde. Doch die Geschichte ihrer jüdischen ermordeten Familie ist offenbar eine Erfindung. Nur drei der 22 Personen sollen überhaupt wirklich existiert haben.
„Holocaust-Opfer zu erfinden, ist nicht nur geschmacklos, es ist gefährlich. Es ist Wasser auf den Mühlen der Holocaust-Leugner, es ist Wasser auf den Mühlen derer, die Opfern eine Mitschuld unterstellen“, schreibt die Autorin Anke Gröner lesenswert in ihrem Blog. Offenbar wollte sich die Bloggerin Hingst interessanter machen, in dem sie nach als Nachfahrin der Opfer darstellte. Um sich selbst vermeintlich aufzuwerten, instrumentalisierte sie das wahre Leid der Opfer. Dass sie damit antisemitische Phantasmen bedient, die den Judenmord der Deutschen als erfunden darstellen oder diesen relativieren und trivialisieren, war ihr dabei offenbar egal.
Ihre Familiengeschichte ist jedoch anscheinend nicht die einzige Fantasie von Hingst: 2017 veröffentlichte sie einen viel beachteten Beitrag auf Zeit Online, in dem sie unter Pseudonym über angebliche Erfahrungen als Sexualberaterin für junge Flüchtlinge schrieb. „Wir gehen derzeit davon aus, dass die Autorin ihr Umfeld, uns und andere Medien getäuscht hat“, schreibt die Chefredaktion von Zeit Online nach der Spiegel-Veröffentlichung.
Im Alter von 19 Jahren will sie gemeinsam mit einem Freund „eine kleine Klinik in einem großen Slum von Neu-Delhi“ gegründet haben, heißt es in dem Text. Spätestens hier hätte die Redaktion stutzig werden müssen: Eine 19-jährige deutsche Abiturientin gründet in Indien ein Krankenhaus? Eine absurde Vorstellung. Noch absurder ist es, diese Behauptung unhinterfragt zu veröffentlichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen