Filmfestspiele in Cannes: In der Wüste, durch die Wohnblocks
Im brasilianischen Film „Bacurau“ übernimmt eine bizarre Fantasie die Erzählung. Im Debütfilm „Les Misérables“ regiert das Tempo der Jagd.
Um die Verhältnisse in der Welt zu beschreiben, muss man sich ja nicht an die Realität halten. In der Kunst jedenfalls. Fantasie hat sich als Mittel ebenso bewährt. So auch bei den Brasilianern Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles, deren Film „Bacurau“ sich mit reichlich Eigensinn im Wettbewerb von Cannes behauptet.
Seinen Namen hat „Bacurau“ nach einem fiktiven Dorf im Sertão, einer wüstenartigen Landschaft im Binnenland Brasiliens. Wasser muss mit dem Lastwagen dorthin geliefert werden, ein bewachter Staudamm blockiert die natürliche Wasserzufuhr. Bloß ein paar Häuser gibt es. Auf den Bürgermeister der Region, der sich selten blicken lässt, sind die Bewohner schlecht zu sprechen, weil er sie kaum mit dem Nötigsten versorgt.
Und dann ist der Ort eines Tages nicht mehr auf den Landkarten zu finden. Nicht auf Google Maps, nicht auf den Satellitenbildern.
Zukunft und Archaik
Als Zeit der Handlung gibt der Film eingangs die nahe Zukunft an. In dieser Zukunft vermischen sich Hightech wie Drohnen in Ufo-Gestalt mit archaischen anmutenden Traditionen, etwa wenn zu Beginn der Handlung die jüngst verstorbene Matriarchin des Dorfs beerdigt wird.
Vor allem aber wird in dieser Zukunft die Gemeinschaft von Bacurau auf eine brutale Probe gestellt. Wobei der Ton des Films ganz unbekümmert zwischen surreal-absurder Leichtigkeit und blutiger Drastik schwebt. Science-Fiction, Western und Horror mischen sich in das zarte Porträt eines trotzig solidarischen Gemeinwesens.
Der brasilianische Star Sônia Braga ist etwa in einem denkwürdigen Auftritt zu erleben als herb-trockene Ärztin, die lediglich unter Alkoholeinfluss zu Wutausbrüchen neigt. Ein würdiger Gegenspieler ist ihr der verdiente Bösewicht Udo Kier, der neben der gewohnten Finsterkeit mit Selbstironie zu einigen der komischsten Szenen beiträgt.
Trotz des schwarzen Humors lassen die düster-apokalyptischen und gewalttätigen Elemente der Handlung einem beim Gedanken an den neuen Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, allerdings das Lachen im Hals stecken. Großes, rätselhaftes Kino.
Polizisten in der Pariser Banlieue
Eindeutigere Verhältnisse stellt der französische Regisseur Ladj Ly her. „Les Misérables“ ist der einzige Debütspielfilm im Wettbewerb und ein wuchtiger Einstand für den Filmemacher. In der Tradition von Mathieu Kassovitz’ „La haine“ (1995) spielt „Les Misérables“, der sich im Titel auf Victor Hugo beruft, in der Pariser Banlieue. Ly wählt als Vehikel seiner Erzählung drei Polizisten eines Sonderkommandos, das in Montfermeil patrouilliert. Zwei Polizisten weiß, einer schwarz und selbst aus dem Viertel. Von den Weißen ist einer neu im Team.
Ladj Ly stammt selbst aus Montfermeil, wo auch Victor Hugos Roman spielt. Ly zeigt eine Banlieue, in der die verschiedenen Gruppen größtenteils nach eigenen Gesetzen leben. Ihr gemeinsamer Hauptgegner ist die Polizei, die bei der Arbeit wenig zimperlich vorgeht und auch vor Erniedrigung nicht zurückschreckt. Chris (Alexis Manenti), der das Polizistentrio anführt, betrachtet selbst das Ausleben von sadistischen Neigungen als für seine Ermittlungserfolge notwendig. Rassistisch ist er ohnehin.
Durch Treppenhäuser jagen
„Les Misérables“ lebt zunächst von der Dynamik dieser ungleichen Truppe, in der die internen Differenzen sich mehr und mehr zuspitzen. Durch einen dramatischen Unfall bei einem Einsatz reißt es das Team fast auseinander. Der Film lebt aber noch mehr von der Dynamik seiner Bilder, mit einer Kamera, die gern durch Treppenhäuser von Wohnblocks rast, über Plätze, wenn die Polizisten einen mutmaßlichen Täter jagen, oder am Ende atemlos dem Ausbruch von Gewalt im Viertel hinterherrast.
Lys Dramaturgie entwickelt die Energie eines Actionthrillers, der einem die sozialen Fragen der Geschichte mit wilder Geste hinknallt. Die Anklage ist klar: Verhandeln lässt sich nicht, wenn die Verhältnisse nicht stimmen. Wobei der Film Gefahr läuft, sein Publikum weniger aufzuschrecken als zu erschlagen.
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