: Berlins blinde Flecken
Bei einem Spaziergang durch Neukölln zeigt der Verein „Berlin Postkolonial“, wie viele koloniale Spuren es auch jenseits des Afrikanischen Viertels gibt
Von Stefan Hunglinger
Erfurt und Leipzig haben es schon 1950 getan, Frankfurt (Oder) drei Jahre später. Aber auch Bochum (1998), Stuttgart (2009) und selbst die schwäbische Kleinstadt Korntal-Münchingen (auch 2009) haben ihre einstige Wissmannstraße umbenannt. Nur in den Berliner Bezirken Neukölln und Charlottenburg-Wilmersdorf prangt der Name des drakonischen Offiziers und Kolonial-Reichskommissars Hermann von Wissmann noch immer auf Straßenschildern – obwohl Schwarze Aktivist*innen wie Mnyaka Sururu Mboro und die in der Neuköllner Wissmannstraße ansässige „Werkstatt der Kulturen“ seit fast 15 Jahren eine kritische Aufarbeitung und Umbenennung fordern.
Mittlerweile haben auch sozialdemokratische, grüne und linke Bezirksverordnete beider Bezirke das Thema aufgegriffen und Umbenennungsprozesse beschlossen. „Es gibt bei dieser Frage schon länger eine links-grüne Zielgemeinschaft in Neukölln. Da die SPD sich nach der eisernen Zeit unter Bürgermeister Heinz Buschkowsky auch neu aufgestellt hat, wurde dieser Beschluss möglich“, sagt die Grüne Susanna Kahlefeldt, die für Neukölln im Abgeordnetenhaus sitzt. „Leider machen Bürgermeister Hikel und Kulturstadträtin Korte jetzt nichts aus dem Beschluss.“
Neben dem Prozess zur Umbenennung sieht der Beschluss auch eine kolonialkritische Bildungsoffensive in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule, dem Museum Neukölln und Schulen vor. Außer Kahlefeldt und Philmon Ghirmai, Vorstandssprecher der Neuköllner Grünen, kamen rund 40 weitere Interessierte am vergangenen Freitag zur dritten Auflage von „Decolonize Neukölln“, einem vom Verein „Berlin Postkolonial“ organisierten Bezirksspaziergang anlässlich des Tages der Nachbar*innen. Neukölln habe mit der Wissmannstraße, der Woermannkehre und den Kolonialdenkmälern auf dem Garnisonsfriedhof am Columbiadamm eine ähnliche Dichte an kolonialen Spuren wie das Afrikanische Viertel im Wedding, so Christian Kopp von „Berlin Postkolonial“.
Der Rundgang begann in der Wissmannstraße, wo der in Tansania geborene Aktivist Mnyaka Sururu Mboro über seinen langen persönlichen Kampf gegen das kulturelle Vergessen der deutsche Kolonialgeschichte sprach. Berlin habe mit der Kongokonferenz 1885 eine zentrale Rolle für das gesamte europäische Kolonialprojekt in Afrika gespielt. „In Deutschland wird oft von England oder Frankreich als den eigentlichen Kolonialmächten gesprochen. Man erzählt sich immer noch, die Deutschen seien nicht lange und eigentlich ‚gute‘ Kolonialherren gewesen“, so Mboro.
Haltloser Mythos
Hermann von Wissmann sei ein Beispiel dafür, wie haltlos dieser Mythos sei. Wissmann hatte nach ersten Aktivitäten im Kongo mit seiner „Schutztruppe“ zwischen 1888 und 1890 den antikolonialen Widerstand der Küstenbevölkerung in „Deutsch-Ostafrika“ – den heutigen Staaten Tansania, Ruanda und Burundi – brutal niedergeschlagen. Auch die Besteuerung der Kolonisierten ist auf ihn zurückzuführen. 1905 wurde sie zum Auslöser des Maji-Maji-Kriegs, in dem mindestens 100.000 ostafrikanische Menschen ihr Leben verloren.
Käme es endlich zur Umbenennung der Wissmannstraße, würden er und „Berlin Postkolonial“ gerne den Namen einer Frau, entweder Mkomanile oder Lucy Lameck auf den Straßenschildern sehen, so Mboro. Lameck (1934–1993) war die erste weibliche Ministerin der 1964 ausgerufenen Republik Tansania, während die Herrscherin Mkomanile sich im August 1905 als erste Anführerin der Wangoni-Bevölkerung dem Maji-Maji-Aufstand anschloss. Sie wurde 1906 von den Deutschen hingerichtet.
Die Regierungsfraktionen haben den Senat im März aufgefordert, ein Aufarbeitungskonzept für Berlins Kolonialgeschichte zu entwickeln. Die Communities aus Ländern mit deutscher Kolonialvergangenheit sollen ihre Expertise einbringen.
Auch die Grünenfraktion bietet Veranstaltungen zu postkolonialer Erinnerungskultur an. Heute (Mo.) 18 Uhr im SAVVY Contemporary, Plantagenstraße 31: „Decolonize the Cultural Sector! Die Rolle von Kultureinrichtungen“.
„Die Überreste vieler Hingerichteter wurden als Anschauungsmaterial ins Deutsche Reich gebracht. Noch heute findet man in Tansania Gräber, die nur zu drei Vierteln mit Erde bedeckt sind, damit man die Schädel beerdigen kann, wenn Deutschland sie endlich zurückgibt“, sagte Mboro.
Auch Schädel aus „Deutsch-Südwestafrika“ befinden sich noch in Berliner Sammlungen. „Nach dem Völkermord an den Nama und Herero hat man die Köpfe der Toten gekocht, und Herero-Frauen mussten die Schädel säubern, bevor sie nach Berlin geschickt wurden. Wir möchten endlich die Anerkennung des Völkermordes, Entschädigungen und eine Entschuldigung von Deutschland“, so der Herero-Aktivist Israel Kaunatjike bei der zweiten Station des Rundgangs, dem Gedenkstein für in der südwestafrikanischen Kolonie gefallene deutsche Soldaten auf dem Garnisonsfriedhof, an dem der „Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Überseetruppen“ noch heute die Kolonialtruppen ehrt.
Nur mit einer kleinen Platte auf dem Boden gedenkt der Bezirk seit 2009 der Opfer der deutschen Kolonialherrschaft. Es ist das einzige Denkmal an den Völkermord deutschlandweit. „Wir wollen ein richtiges Denkmal mit einem Herero-Zitat und nicht einem von Humboldt. Wenn die deutschen Institutionen auf Bundesebene nichts tun, ist das peinlich, traurig und respektlos“, so Kaunatjike. In der Tat wirkt die auf einem Friedhof versteckte Humboldt-Zeile wie ein ironischer Kommentar auf die mangelnde Anerkennung kolonialer Gewalt: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen