: Gemeinsam Lernen
BILDUNG In „Berg Fidel - Eine Schule für alle“ dokumentiert Hella Wenders, wie gut Kinder aus verschiedenen Milieus in einer Grundschulklasse zusammen lernen
VON GASTON KIRSCHE
Drei Jahre lang hat die Regisseurin Hella Wenders die GrundschülerInnen dreier Klassen der Schule Berg Fidel im gleichnamigen Münsteraner Stadtteil begleitet, beobachtet. In dem als „sozialer Brennpunkt“ abgestempelten Quartier Berg Fidel leben 6.000 Menschen, neben Hoch- und Einfamilienhäusern gibt es auch Sammelunterkünfte für geduldete Flüchtlinge.
An den Türen der Klassenzimmer kleben viele kleine Nationalfahnen – von den Ländern, deren Staatsangehörigkeit den Kindern zugeordnet wird. Von außen ist es eine Grundschule wie viele andere auch: Pavillonbauweise, überdachte Gänge, asphaltierter Schulhof. Durch die Dokumentation lernen wir das Besondere kennen, wie diese Reformschule funktioniert: Hier lernen alle Kinder des Stadtteils zusammen, von der ersten bis zur vierten Klasse. Kein Kind wird ausgeschlossen. Egal, wie besonders es ist.
Die Schule ist eine Inklusive. Alle Kinder zusammen bilden eine gemeinsam lernende Gemeinschaft, in der jedeR nach ihren Fähigkeiten, jedeR nach ihren Möglichkeiten zusammenwirken bei der Lösung von Aufgaben. Niemand siegt, niemand versagt. Alle werden bestärkt.
Die Regisseurin hat sich dafür entschieden, die Kinder selbst sprechen zu lassen. Der ganze Film kommt ohne Kommentar aus. Auch die Eltern und Lehrenden kommen nur vor, wenn sie die Kinder ansprechen. Das gibt dem Film eine Unmittelbarkeit, die so faszinierend, so lebendig, widersprüchlich und überzeugend ist, wie die Kinder selbst. Das meiste ist in der Schule gedreht, einiges auch zuhause in den Familien, auf der Straße. Immer nah dran. Die Zuschauenden sind dabei, wenn sich wie jede Schulwoche der Klassenrat der Delfinklasse trifft, um gemeinsam Probleme, Konflikte zu Lösen. Hier leiten keine Lehrenden die Gesprächsrunde – es ist Jakob, der moderiert. Wunderbar zu sehen, wie die Kinder miteinander Lösungen finden.
Jakob ist eines von vier Kindern, die in dem Film portraitiert werden, die durch drei Schuljahre hindurch begleitet werden. Jacob Leonhard sucht sich gern schwere Aufgaben, spielt Klavier, achtet darauf, sich sehr genau auszudrücken. Aber er trägt auch ein Hörgerät, kann schlecht sehen, auf dem rechten Auge fast gar nicht. Er blüht auf in der Schule, wird umfassend gefördert und vollbringt Leistungen, die atemberaubend sind. Gleich zu Beginn des Filmes liest er eine spannende Geschichte von der Notlandung eines Space Shuttles vor. Als die Kamera ihn nicht mehr von vorne zeigt, sondern über seine Schulter filmt ist zu sehen: Er liest seine eigene, kraklige Handschrift, in der er die druckreife Geschichte verfasst hat.
Auch sein kleiner Bruder David steht im Zentrum: Der stört ihn oft, klar, Geschwisterkabbeleien. In der Schule hat Jacob viel Unterstützung von den MitschülerInnen. Er hat das Down-Syndrom und trägt auch ein Hörgerät. Mit seiner Fröhlichkeit heitert er die Anderen auf, untröstlich ist er, als er einer Katze aus Papier den Schwanz beim Ausschneiden abtrennt. Da hilft ein Sonderpädagoge, der gleich zur Stelle ist. Und schon ist die Katze wieder ganz.
Seiner Mitschülerin Anita Jasharaj droht ständig die Abschiebung in das Kosovo. Ein Land, mit dem sie nur die antiziganistische Gewalt gegen ihre Familie verbindet. In Berg Fidel wohnen viele geduldete Roma – während der Dreharbeiten erhalten sie die Aufforderung zur Ausreise. Abschiebung droht. In der Klasse werden Solidaritätsbriefe geschrieben, mitdemonstriert: „Keine Abschiebungen – alle sollen hier bleiben dürfen!“. Gemeinsam wird auf der Straße Gelem, Gelem gesungen, das bewegende, bekannte Lied auf Romanes.
Lucas Niehus ist beim Lernen langsamer als viele Andere. Einmal sagt er zu Jacob im Scherz: „Ich bin auch behindert – ich habe die Doofheits-Ansteckung“. Absolut gekonnt gleitet er mit seinem Roller über eine Skateboard-Halfpipe, möchte so etwas gerne als Beruf machen. Er hat ein Mädchen kennengelernt, das den gleichen Berufswunsch hat wie er. Im Unterricht strengt er sich an, dank Unterstützung kann er zusehends besser Lesen, Aufgaben lösen. Wenn er mit seinen Lernproblemen alleine gelassen würde, in einer normalen Klasse ohne zusätzliches Personal lernen müsste, hätte er dass wohl nicht geschafft.
Am Schluss des Filmes ist die vierte Klasse vorbei. Nach den Sommerferien werden sie auf weiterführende Schulen gehen. Leider ist Berg Fidel nur eine Grundschule. So werden sie auseinander gerissen. Und mit der brutalen Segregation des bundesdeutschen Bildungssystems konfrontiert. Eine halbe Million SchülerInnen in Deutschland sind als „lernbehindert“ etikettiert. 85 % von ihnen werden auf die Sonderschulen ausgesondert.
Im Abaton wird es am 19. 9. nach der 19-Uhr-Vorführung ein Expertengespräch geben mit: Dr. Angela Ehlers, Leiterin des Referats Inklusion der Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg und Ingrid Körner, Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen.
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