: „Das ist die Türkei, hier ist alles möglich“
Bürgermeisterwahl in Istanbul: Am Ende „gewinnt“ immer die AKP. Aber die Opposition klammert sich wieder an ihre Hoffnung
Essay von Ali Çelikkan
Die Menschen in der Türkei haben sich daran gewöhnt, dass in den kurdischen Gemeinden Bürgermeister abgesetzt werden, die 70 Prozent der Wählerstimmen erhalten haben. Die Istanbuler gingen aber stillschweigend davon aus, dass so etwas im Westen der Türkei niemals passieren würde. Doch nun ist es passiert.
Fünf Wochen nachdem die Regierungspartei bei den türkischen Kommunalwahlen Istanbul an die Oppositionspartei CHP verloren hat, hat die Wahlkommission auf Antrag der AKP am Montagabend die Bürgermeisterwahl in Istanbul annulliert und eine Wiederholung der Wahl angeordnet. Der Hohe Wahlrat begründete seine Entscheidung damit, dass die Istanbuler Wahlvorstände regelwidrig eingesetzt worden seien. Die CHP akzeptierte diese Entscheidung. Was bleibt ihnen anderes übrig? Auf die Straße gehen? Sie denken dann an die Gefängnisse, an die Friedhöfe.
Sie sagen, dass die Demokratie sich nicht auf die Wahlen beschränkt. Aber Demokratie findet an der Wahlurne statt. Wer in der Türkei kann das Gegenteil behaupten? In der Türkei gibt es überquellende Wahlurnen, gestohlene Wahlurnen, ausgezählte und nochmals ausgezählte Wahlurnen und Wahlurnen, die in schlaflosen Nächten verteidigt werden, nur um später für irrelevant erklärt zu werden.
Jede Wahl bringt neue Hoffnung in der Türkei. Der bloße Klang des Worts elektrisiert die Menschen. „Das hier ist die Türkei, hier ist alles möglich“, sagen die Leute.
2002 bis 2011: Die Wirtschaft wächst, es wird gewählt, die AKP gewinnt. 2013 bis 2015: Es gibt Proteste, ein Korruptionsskandal wird aufgedeckt. Die AKP verliert die absolute Mehrheit, es werden Neuwahlen angesetzt. Bomben explodieren, Menschen sterben, es wird erneut gewählt, die AKP gewinnt. 2017: Die Wirtschaft stagniert, oppositionelle Politiker werden inhaftiert, es wird gewählt, die Regeln werden geändert. Auch wenn Sie als Oppositioneller wissen, dass Sie nicht verloren haben, sollen Sie angeblich verloren haben. 2018: Neue Oppositionsführer treten hervor, die Türkei marschiert in Syrien ein, es gibt vorgezogene Wahlen, die AKP gewinnt. 2019: Die Wirtschaft schrumpft, die Arbeitslosigkeit steigt. Es wird gewählt: Dieses Mal gewinnen Sie wirklich, doch sie behaupten, Sie hätten nicht gewonnen. Die Wahl wird wiederholt. Sie akzeptieren es, denn Sie glauben sich selbst.
Bei den Wahlen in der Türkei gibt es keinen Unterschied zwischen Selbstvertrauen und gespieltem Selbstvertrauen. Alles ist möglich, „Wir werden gewinnen“, sagen die Oppositionellen. Aber es gibt nichts zu gewinnen, die Wahlen sind manipuliert, die Wahlen sind eine Farce. Das ist eine Diktatur. Die Justiz und das Gewissen haben dieses Land verlassen, und sie werden nicht mit Wahlen zurückkommen.
Das verstehen wir unter Demokratie. Diejenigen, die aus Europa auf unser Land schauen, wundern sich, dass die Oppositionellen immer noch hoffnungsvoll sind. In Europa passiert so etwas nicht, und wenn es passiert, ist das nicht Europa. Auch Europa fragt sich, was man jetzt noch tun kann. Europa sieht zu, ist besorgt und drückt seine Besorgnis aus. Europa hofft, dass die türkische Wirtschaft keinen Schaden nimmt. Und sorgt sich noch ein bisschen mehr. Vielleicht wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in ein paar Jahren ein Urteil fällen. Doch das wird auch nichts nützen.
Und was passiert nun? Voraussichtlich das gleiche, was in den Jahren zuvor bei Wahlen passiert ist: Die Repressionen werden verschärft, die Wahlurnen werden von noch mehr Polizisten bewacht, es gibt weitere Verhaftungen, ein Klima der Angst und Gewalt wird geschürt.
Die Menschen klammern sich an Hass; oder eben an ihre Hoffnung: Dieses Mal hat es nicht geklappt, vielleicht klappt es das nächste Mal. Die Hoffnung ist groß, vielleicht sogar größer als beim letzten Mal. Doch wie vielversprechend ist diese Hoffnung bei manipulierten Wahlen? Diejenigen, die nicht an die Wahlen glauben, werden dazu gezwungen. Denn das Vertrauen in Wahlen zu verlieren, würde bedeuten, dass sie nicht an die Demokratie glauben. Ein Wahlboykott kommt nicht in Frage.
„Demokratie ist das beste, was wir haben, auch wenn sie ihre Schwächen hat“, hört man von der Opposition. „Wenn wir nicht zu den Wahlen gehen, dann liefern wir uns ihnen aus.“ Jemand sagt: „İmamoğlu holt dieses Mal 60 Prozent.“ Denn 51 Prozent der Stimmen haben nicht gereicht. Die Wähler der Opposition glauben daran. „Wenn es 60 Prozent werden, dann können sie nichts mehr machen.“ Sie müssen so denken. „Wählen gehen ist das einzige, was wir noch tun können“, sagen sie. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Zu den Waffen greifen?
So kommen die Wahlen, und so ziehen sie an einem vorbei. Am Ende gewinnt die AKP. So oder so. Die Wähler der Oppositionsparteien sagen vielleicht: „Jetzt reicht es aber. Das geht nun wirklich nicht mehr.“ Aber es geht. Die Demokratie – sie ist weder mit Wahlurnen in dieses Land gekommen, noch wird sie mithilfe der Urnen zurückkehren.
Ali Çelikkan ist Projektleiter von taz gazete. Aus dem Türkischen von Volkan Ağar und Elisabeth Kimmerle.
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