: So viel Sie tragen können
In Wien können sich Fremde in den Wohnungen Verstorbener bedienen, bevor der Nachlass entsorgt wird. Das soll Müll vermeiden, ist aber auch eine Würdigung der Toten, denn ihre Dinge werden weitergenutzt und vielleicht sogar geliebt
Aus Wien Jana Lapper (Text)undRois & Stubenrauch (Fotos)
Wien, 2. Bezirk, vor einem Haus, erbaut in den 60er Jahren, stehen zwei Dutzend Leute. Bepackt mit Rollkoffern undblauen Ikea-Tragetaschen warten sie auf Einlass, den ihnen ein Mann in grauem Mantel dann auch gewährt. „Willkommen zu einer neuen Runde Nachlass-Hopping“, sagt er in feierlichem Ton. „Ich weiß gar nicht, wie oft es schon stattgefunden hat.“ Eine Frau aus der Menge: „46-mal“.
Christof Stein gilt als Erfinder des Nachlass-Hoppings. Er öffnet den Leuten die Türen zu Wohnungen kürzlich Verstorbener. Mit einem „Einlassschein“, der 15 Euro kostet, können sie vom Nachlass dann mitnehmen, so viel sie tragen können.
Meist beauftragen die Angehörigen Stein mit der Organisation. Ausschließlich auf einer Facebook-Seite veröffentlicht er dann Datum und Uhrzeit. Die Adresse der Wohnung, in der das Event stattfindet, erfahren die Teilnehmer*innen indes in seinem Trödelladen namens „Ramsch und Rosen“, der in der Neubaugasse mit seiner rosa Fassade und dem vollgestopften Schaufenster zwischen hippen Boutiquen und Naturkostläden heraussticht. Für Interessierte heißt es dann schnell sein. Die Einlassscheine sind begehrt und in kürzester Zeit vergriffen, denn die Anzahl der „Hopper“, so nennt Stein sie, ist begrenzt.
Im achten Stock ist die Wohnung, die voll ist mit all den Dingen, die sich in einem Leben ansammeln können. Isabella Srienz-Ranner, die Nichte der Verstorbenen, steht im Schlafzimmer ihres Onkels und ihrer Tante. Sie wollte gern dabei sein, wenn sich Leute durch den Nachlass wühlen. „Ich war den beiden nicht besonders nahe“, erzählt sie. Umso überraschter sei sie gewesen, dass sie sie als Erbin einsetzten. „Als ich die Wohnung sah, hab ich mir gedacht: Okay. Aber was machst du mit dem ganzen Zeug?“
Überall, wo es ging, hat das verstorbene Paar braune Einbauschränke in der 65-Quadratmeter-Wohnung angebracht. Srienz-Ranner öffnet einen, in dem sich nichts als noch verpackte Seidenstrümpfe übereinanderschichten. Als sie das erste Mal die Wohnung betreten habe, hatte noch ein Berg Klamotten die Hälfte des Schlafzimmers bedeckt – erst später kam darunter ein Kühlschrank zum Vorschein. Auch Altwarenhändler Stein sagt später, so eine volle Wohnung habe er selten gesehen.
Mit diesen Worten hat er die Wohnung den Hoppern im Hausflur schmackhaft gemacht. Die Ersten treten ein, schauen sich um, wägen innerhalb weniger Sekunden ab: Welches Zimmer ist strategisch am sinnvollsten? Kurz darauf geht es in allen Zimmern geschäftig zu, untermalt von klassischer Musik, die Stein im Wohnzimmer eingeschaltet hat.
Franziska Strasser, deren rote Haare heraussstechen, hoppt zum ersten Mal. Sie suche nichts Bestimmtes, die 29-Jährige öffnet Schranktüre um Schranktüre. Die altmodische Bettwäsche darin inspiziert sie genauer: „So was kann man immer gebrauchen.“
Im Wohnzimmer schichtet eine Frau grün bemaltes Geschirr in eine Kiste, „für unseren Kindergarten“, sagt sie. Im Flur diskutieren währenddessen zwei Frauen, wer welchen Teppich mitnehmen darf. Eine ältere Frau greift zum Handy: „Du Hansi, kannst mi dann abholen?“ Und als sie auflegt: „Gott sei Dank, jetzt kann i weitersuchen.“ Ein älterer Mann mit Hut zeigt stolz einen alten Marillenschnaps: „So was wird ja nicht schlecht.“ Er komme gern zum Hopping, für ihn sei es ein Erlebnis.
Mittendrin steht Srienz-Ranner. Huschen Hopper*innen vorbei, stellt die Nichte der Verstorbenen ihnen neugierige Fragen: Woher sie denn davon erfahren hätten, und was sie mit all den Dingen machen würden? Ihr selbst hatte ihr Sohn von dieser Möglichkeit erzählt. „Was wäre denn die Alternative gewesen?“, fragt sie. „Eine Räumung? Dann wird alles einfach weggeworfen. Dabei gibt es doch Leute, die tatsächlich Pfannen brauchen können.“ Laut Stein werden durch die Hoppings pro Jahr rund 44 Tonnen Müll gespart.
Helle Flecken auf der vergilbten Tapete zeigen, dass Srienz-Ranner schon vor dem Mitnehmevent einige Dinge entfernt hat. „Die beiden waren Fotografen“, sagt sie mit gedämpfter Stimme, als verrate sie ein Geheimnis. Überhall hingen Selbstporträts. Tante und Onkel seien eigen gewesen und sehr auf sich bezogen. Die Porträts und bestimmt hundert Fotoalben habe sie entsorgt. Das sei „zu privat“.
Danach schaltete sie Stein ein. Der Altwarenhändler durchsuchte die Wohnung nach Wertvollem, bevor er den Hoppern Einlass gewährte: Porzellan und zwei kleine Möbelstücke habe er für sein Geschäft mitgenommen, in dem er vor allem mit Design aus dem 20. Jahrhundert handelt. 1.200 Euro habe er mit Srienz-Ranner dafür vereinbart. „Schon als Jugendlicher habe ich Dinge von Müllplätzen geholt“, erzählt er. Anschließend haben seine Mitarbeiter*innen die Wohnung für das Hopping vorbereitet: Allzu persönliche Gegenstände und Medikamente sollen niemandem in die Hände fallen, die Identität der Verstorbenen soll unbekannt bleiben, auch über die Todesursache wird nicht gesprochen.
„Mit dem Hopping an sich verdiene ich nichts“, sagt Stein. Die Gebühr von 15 Euro würde für die Organisation draufgehen. „Es geht mir darum, dass möglichst viel weiter verwendet wird und um eine Umverteilung.“ Als auch in Deutschland jemand sein Konzept kommerziell nachahmen wollten, ließ er sich die Idee schützen.
Deshalb gibt es das Nachlass-Hopping in dieser Form nur in Wien, jener Stadt, die schon immer ein besonderes Verhältnis zum Tod hatte. Der Zentralfriedhof, 2,5 Millionen Quadratmeter, 3 Millionen Gräber, ist für viele Tourist*innen ein Muss. Unter dem zentralen Stephansdom liegen Gruften voller Gebeine, das Bestattungsmuseum bietet Probeliegen im Sarg. Die Wiener*innen zelebrieren „a schöne Leich“ und in den 1950er Jahren sang Georg Kreisler „Der Tod muss ein Wiener sein“.
Nach einer Stunde schiebt Strasser ihre zwei Taschen und den Trolli durch die volle Wohnung an anderen kramenden Menschen vorbei. Eine Stehlampe, Bettwäsche, Bilder, Poster, Dosen, Kosmetiktäschchen, Tassen und vieles mehr kann sie kaum noch tragen. „Davor habe ich es mir deprimierend vorgestellt, hier zu sein“, sagt sie. Schnell wühlt sie noch in einer Schublade voller noch verpackter Damenunterhemden. „Die sind ja alle reine Seide“, stellt sie fest. „Aber warum hat sie die nur so gehortet?“
Beim Wühlen vergesse man, dass zwischen diesen Wänden zwei Menschen gelebt haben. Dass sie in diesem Bett schliefen, in dieser Küche ihren Kaffee kochten, sagt eine Hopperin. Und plötzlich fällt es manchmal doch wieder auf. Da sind die Ansichtskarten, die hinter den Bücherreihen hervorfallen und dann doch den Namen der Verstorbenen preisgeben. Und man fragt sich, was es wohl mit den angetrunkenen Schnapsflaschen im Kästchen auf dem Klo auf sich hat.
Dass fremde Menschen in ihrer Wohnung wühlen, hätte ihrer Tante und ihrem Onkel sicher nicht gefallen, meint Srienz-Ranner. „Sie waren sehr private Menschen.“ Früher seien die beiden ziemlich „etepetete“ gewesen. Vor zehn Jahren hatte ihre Tante einen Schlaganfall, seitdem hätten sie niemanden mehr in die Wohnung gelassen.
Stein sagt, anfangs fürchtete er, es könnte eine pietätlose Veranstaltung werden. „Aber alle Leute, die zum Hopping kommen, sind uns bekannt, weil sie sich den Einlassschein persönlich im Laden holen müssen“, sagt er.
Nach knapp zwei Stunden sind die meisten wieder gegangen. Die Wohnung sieht jetzt schlimmer aus, als vorher: Unterlagen und Bücher sind auf dem Boden verstreut. Bald wird der Räumungsdienst mit einem Transporter kommen, der den Rest entsorgt. Srienz-Ranner wird die Wohnung renovieren lassen und vermieten. „Die wird sicher nicht günstig, das Grätzel ist im Kommen“, sagt eine Mitarbeiterin von Stein.
Strasser macht sich mit Trolli, Taschen und Stehlampe auf den Weg nach Hause. Dort breitet sie alles auf dem Wohnzimmerteppich aus. „Jetzt muss ich erst mal schauen, was ich wirklich brauche“, sagt sie und sortiert die unbeschrifteten Grußkarten, die sie nun verschicken wird. „Zu oft darf ich nicht bei so was mitmachen“, sagt sie. „Eigentlich mag ich es nicht, so viele Dinge anzuhäufen.“
Ihr Mitbewohner kommt nach Hause, skeptisch blickt er auf die erstandene Bettwäsche. „Kann man doch bei 90 Grad kochen“, meint sie. „Aber kann man auch den Tod auswaschen?“, fragt er.
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