piwik no script img

Sprecher des Presserats zum Journalismus„Häufig ist es nur ein Gefühl“

Der Presserat wacht über die journalistische Ethik. 2018 erhielt er wieder mehr Beschwerden. Sind die Leserinnen und Leser kritischer geworden?

Der Wahrheit den nackten Hintern gezeigt: Rechtsextreme in Chemnitz Foto: Michael Trammer
Interview von Moritz Döring

taz am wochenende: Herr Protze, Beschwerden an den Presserat gab es 2018 mehr als in den vergangenen Jahren, insgesamt über 2.000. Begrüßen Sie eine solche medienkritische Haltung?

Manfred Protze: „Medienkritik“ ist ein ganz wesentliches Element der Glaubwürdigkeit. „Kritisch“ wird im populären Sprachgebrauch jedoch oft als „ablehnend“ verstanden.

In Ihrem Jahresbericht ist von „Medienskepsis“ die Rede, auch bezüglich der Kontroverse über den Begriff „Hetzjagden“ im Zusammenhang mit Ausschreitungen im vergangenen August in Chemnitz.

Es mag sein, dass die Medien insgesamt skeptischer betrachtet werden – das kann Ausdruck von enttäuschten Erwartungen oder auch eines Verlusts an Glaubwürdigkeit sein. Hier lohnt es sich, zu schauen, welchen Anteil die Medien selbst an der Entwicklung hatten. Andererseits gibt es organisierte Kampagnen von Interessengruppen, die den Medien ein Image der „Unglaubwürdigkeit“ verpassen wollen. Die Konsumenten sollen auf andere Medien umschwenken, welche die Kritiker gegebenenfalls selbst produzieren. Die journalistischen Medien flächendeckend als „Lügenpresse“ zu bezeichnen, halte ich für nicht gerechtfertigt. Die Medien müssen jedoch auch eigene Schwächen reflektieren, die diesem Vorwurf Vorschub leisten.

Im Jahresbericht fällt in diesem Zusammenhang immer wieder derselbe Begriff: „Glaubwürdigkeit“. Was heißt das für Sie?

Unterscheiden wir zwischen einer „strukturellen“ und einer „tatsächlichen Glaubwürdigkeit“: Unter „strukturelle Glaubwürdigkeit“ fällt, dass Medien öffentlich Rechenschaft von sich ablegen, verbindliche Regeln für ordentliche Arbeit und Produkte aufstellen und transparente Verfahren anwenden, um Fehler zu korrigieren oder zu vermeiden. Dafür gibt es etwa den Pressekodex als Regelwerk und den Presserat, der auf Antrag von Lesern und Leserinnen prüft, ob die Regeln verletzt wurden. Darüber hinaus arbeitet jeder einzelne journalistische Beitrag an der „tatsächlichen Glaubwürdigkeit“ mit, im positiven und im negativen Sinne. Die Konsumenten sind von vornherein nicht bösgläubig, sie vertrauen. Auch Fehler erschüttern das Vertrauen nicht, wenn die Presse offen damit umgeht, sie korrigiert oder sich entschuldigt. Erst durch manifeste Enttäuschungen und durch „Fehler unter den Teppich kehren“ entstehen Glaubwürdigkeitsprobleme.

Im Interview: Manfred Protze

Manfred Protze, 73, Journalist und Nachrichtenredakteur, Referent an der Katholischen Journalistenschule ifp und seit 2018 stellvertretender Sprecher des Deutschen Presserats.

Warum glauben einige Medienkonsumenten nicht, dass in Chemnitz 2018 „Hetzjagden“ stattgefunden haben?

Weil dort zwei unterschiedliche Definitionen von Glaubwürdigkeit eine Rolle spielen: Einerseits sind überprüfbare Tatsachen das Fundament der Glaubwürdigkeit eines Beitrags. Leser, die sich beim Presserat beschweren, stellen aber auch die Angemessenheit der verwendeten Begriffe infrage. Sie bestreiten nicht die Grundtat­sachen, halten den Ausdruck jedoch für nicht angemessen.

Tatsachen werden aber bisweilen auch infrage gestellt.

Der deutsche Presserat

Der deutsche Presserat wurde 1956 nach Vorbild des britischen Press Council gegründet. Als eingetragener Verein ist er ein staatsunabhängiges Organ journalistischer Selbstkontrolle.

Mit dem Pressekodex hat der Presserat 1973 ein ethisches Regelwerk für journalistische Arbeit aufgestellt, das er regel­mäßig aktualisiert. Drei Ausschüsse diskutieren Beschwerden gegen Zeitungsartikel und sanktionieren Verstöße gegen den Kodex mit sogenannten „Rügen“.

2.038-mal haben sich Menschen im vergangenen Jahr beschwert. Den Großteil bewertete der Presserat als „offensichtlich unbegründet“. 606 Meldungen gelangten in die Diskussion. Die Beschwerdeausschüsse stuften 287 als begründet ein, gegen 245 Beiträge sprach der Presserat Sanktionen aus: 27 öffent­liche Rügen, eine nichtöffentliche Rüge, 70 „Missbilligungen“ und 147 „Hinweise“.

Wer sich ebenfalls beschweren will, kann auf die Website des Presserats gehen. Dort steht auch der vollständige Bericht: www.presserat.de.

Der Presserat fordert in solchen Fällen die Beschwerdeführer auf, Tatsachen zu liefern, die einer angegriffenen Darstellung widersprechen. Es ist häufig nur eine Wahrnehmung, ein Gefühl, das der Behauptung der Falschberichterstattung zugrunde liegt. Und hieran scheitern bereits viele Beschwerden.

Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen in Chemnitz nennen Sie Migrationsbewegungen sowie Rechtspopulismus als Anhaltspunkte. Ist „Medienskepsis“ also nur ein zeitliches Phänomen, das wieder abklingen kann?

Ich bin kein Prophet. Das flächendeckende Abqualifizieren journalistischer Medien ist Teil politischer Kampagnen. Wann die Interessengruppen ihre Strategie ändern, ist schwer vorherzusagen. Über den Begriff „Lügenpresse“ lässt sich aber bereits feststellen: der ist aus dem politischen Kampfwortschatz weitgehend verschwunden, kaum jemand spricht noch davon.

Welchen Anteil haben neben organisierten Kampagnen soziale Medien?

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Den Konsumenten gelingt es nicht immer, zwischen sozialen Medien und journalistischen Formaten zu unterscheiden. Die sozialen Medien besitzen im Gegensatz zu journalistischen Formaten keine ethische Bindung, beide treten jedoch als Wettbewerber auf. Was journalistische Medien aus ethischen Gründen nicht publizieren, hatte schon immer eine von Neugier gesteuerte Nachfrage. Diese Nachfrage bedienen die sozialen Medien ohne jede Verantwortung. Hieraus resultiert wiederum teilweise der Vorwurf „Lügenpresse“, da journalistische Medien ja einer Zensur unterlägen.

Welche Auswirkungen können Betrugsfälle wie der des „Spiegel“-Reporters Claas Relotius in dieser Hinsicht entfalten?

Einerseits gibt es kein perfektes System. Auch die journalistischen Medien sind nicht fehlerfrei. Auch sie können Täuschungen zum Opfer fallen. Andererseits ist die Frage: Wer trägt Verantwortung für Falschberichterstattung? Der Presserat geht nicht von einzelnen Akteuren aus, sondern von der Gesamtverantwortung ganzer Medien. Wichtig ist: Welche Strukturen begünstigen solche Fehler und was unternehmen die Medien, um derartiges für die Zukunft zu vermeiden. Mit entsprechendem Talent ist es Hochstaplern schon immer gelungen, die Sicherungssysteme von Medien zu unterlaufen: Denken Sie an Konrad Kujaus Hitler-Tagebücher oder an Tom Kummer. Das sind Einzelereignisse. Entscheidend ist: Wenn so etwas passiert, kann man einer Erosion von Glaubwürdigkeit nur mit einer angemessenen Reaktion begegnen: Transparenz, Öffentlichkeit, Selbstreflexion.

Vernachlässigen Medien ihre Sorgfaltspflicht in den letzten Jahren häufiger?

Wir können nicht sagen, dass die Glaubwürdigkeit der Presse in den letzten Jahren gesunken ist. Dafür gibt es keine belastbaren Anhaltspunkte oder Daten. Dass einzelne Interessengruppen die Medien angreifen, sollten diese als Chance verstehen, um nach eigenen Schwachstellen zu suchen und sich selbstbewusst der Debatte zu stellen.

Für das Jahr 2018 sind 2.038 Beschwerden beim Presserat eingegangen. Welche Zahl wünschen Sie sich für das Jahr 2019?

Ich wünsche mir eine sinkende Zahl – und gleichzeitig eine steigende. Eine sinkende, weil es weniger Arbeit machen würde, eine steigende als Ausdruck des Vertrauens in die Selbstregulierung der Presse. Der wachsende Bekanntheitsgrad des Presserats trägt aber auch dazu bei, dass die Zahlen langfristig gesehen steigen. Die Annahme, das habe etwas mit der Anfälligkeit der Presse für Fehler und Regelverstöße zu tun, ist spekulativ. Das lässt sich nicht aus den Zahlen ableiten. Fest steht aber: Der Bekanntheitsgrad des Presserats ist über die Jahre gestiegen, auch durch die Berichterstattung in den Medien selbst.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Selbstregulierung, nun ja. Je nach Interessenlage. Ressourcen für die Recherche werden hauptsächlich für aus dem täglichen Klein-Klein herausragende Themen eingesetzt. Die Masse der dadurch kaum redigierten, geschweige denn fundiert hinterfragten PR-Meldungen füllt den Newsstream auf und suggeriert eine große Menge Journalismus, die im Kern eigentlich eher als Sekretariatsarbeit zu charakterisieren wäre. Realitätsgehalt ist dabei Glückssache.

    Ähnlich im politischen Journalismus, der mittlerweile hautsächlich Verlautbartes kolportiert, aber meist unterlässt, es auf seinen faktischen Gehalt abzuklopfen.

    Es wäre zu hoffen, dass D nicht erst einen Trump braucht, um in der Breite wieder zu einer Definition von Journalismus zu kommen, die mehr auch als Hintergrundlieferant denn als Durchlauferhitzer für Interessenvertreter verstanden wird.