Missbrauchskommission legt Bericht vor: Intensives Schweigen
Die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs hat eine erste Bilanz gezogen. Klar ist: Betroffene erhalten zu wenig Unterstützung.
Die Personen, denen sie nach Jahrzehnten ihre Biografie anvertrauten, gehören zur Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die sich vor drei Jahren gegründet hat. Seitdem versucht die ExpertInnengruppe aus Familien- und SexualforscherInnen, JuristInnen und Betroffenen hinter die Strukturen zu schauen, die sexuelle Gewalt in der Familie, in kirchlichen Einrichtungen, in Heimen und Sportvereinen ermöglichen. Am Mittwoch stellte die Kommission in Berlin eine erste Bilanz vor.
Und die ist bitter: Knapp 1.400 Betroffene meldeten sich für eine sogenannte Anhörung, erklärten sich also bereit, zu berichten, was ihnen als Kind und Jugendlicher widerfahren ist. Rund 900 dieser „Anhörungen“ wurden mündlich durchgeführt, in Gesprächen und Telefonaten, etwa 300 Opfer teilten sich in Briefen oder per Mail mit. Die Dinge, die sie darin erzählen, klingen so ähnlich wie die Sätze von Leonie: „Ich lag dabei auf einer Tapetenstreichunterlage.“
Die erschreckendste Erkenntnis der Kommission: Schweigen. „Die zentrale Frage lautet nicht: Warum sprechen die Opfer so spät?“, sagt Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen, Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. „Die Frage muss lauten: Warum hat das Umfeld so lange und so intensiv geschwiegen?“ Im übrigen, schiebt sie hinterher, hätten die meisten Opfer schon früh gesprochen. Leonie: „Mit 13 schrieb ich meiner Mutter Briefe darüber, was mein Vater mit mir macht und dass ich es nicht mehr aushalte. … Sie glaubte mir nicht.“
Übergriffe in der DDR noch stärker tabuisiert
13.683 Kinder wurden laut Kriminalstatistik allein 2018 Opfer sexueller Gewalt, ein Jahr zuvor waren es 12.850 Mädchen und Jungen, 1.600 von ihnen waren jünger als sechs Jahre. Es muss davon ausgegangen werden, dass diese Zahlen viel zu gering sind, Dunkelfeldforschungen gehen davon aus, dass jede und jeder Achte in Deutschland mindestens einmal in der Kindheit und der Jugend sexuelle Gewalt erlebt hat.
Sabine Andresen
Mehr als die Hälfte der Übergriffe fand dem Kommissionsbericht zufolge in der Familie statt, 83 Prozent der Betroffenen waren Frauen. Missbrauch gab es in beiden deutschen Staaten, wobei die Übergriffe in der DDR noch stärker tabuisiert wurden als in der alten Bundesrepublik. „Das passte nicht in die heile sozialistische Gesellschaft“, sagte am Mittwoch Kommissionsmitglied und frühere SPD-Frauenministerin Christine Bergmann.
Betroffenen fällt es meist bis an ihr Lebensende schwer, darüber zu reden. Auf weitaus größere Hürden beim Umgang mit dem Thema stoßen sie in der Gesellschaft. Krankenkassen verweigern ihnen vielfach die nötigen finanziellen und sachlichen Mittel, um ihre Traumata aufzuarbeiten und in den Arbeitsmarkt zurückkehren zu können, beklagt Kommissionsmitglied Peer Briken.
„Beim Kinderschutz ist Deutschland in der Krise“
Auch die Beweispflichten und Prozeduren, die Opfer durchlaufen müssten, wenn sie Leistungen über das Opferentschädigungsgesetz beantragten, sind in den Augen des Direktors des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Klinikum Hamburg-Eppendorf, mehr als hinderlich. Auch dort würde ihnen häufig nicht geglaubt. „Die Frage der Glaubwürdigkeit zieht sich durch das ganze Leben der Opfer“, sagte Briken.
„Beim Kinderschutz ist Deutschland in der Krise“, fügte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig an: Kinderschutz sei kein „Gedöns“, sondern „harte Kriminalitätsbekämpfung“. Rörig kündigte eine „Sensibilisierungskampagne“ ab 2020 an, mit der die Gesellschaft stärker auf das Thema aufmerksam gemacht werden soll. Finanzminister Olaf Scholz, SPD, müsse dafür 5 Millionen Euro bereitstellen.
In ihrer nächsten Laufzeit will die Kommission Strukturen und Missbrauchsfälle in Sportorganisationen und -vereinen untersuchen. Der „Sportbereich“ sei bisher vernachlässigt worden, sagte Kommissionsmitglied und Juristin Brigitte Tilmann. Ebenso wie Übergriffe auf Menschen mit Behinderung und die Vorgänge der pädosexuellen Bewegung in Berlin ab den 1970er Jahren.
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