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Es bleibt ein großer Interpretationsspielraum

Der 3:2-Sieg über die Niederlande verschafft Joachim Löw etwas Kapital. Das Lamento könnte aber jederzeit neu ausbrechen, denn die Verteidigung offenbarte Unsicherheiten

Einer der neuen Hoffnungs­träger: Leroy Sané tanzte fleißig Gegner aus und schoss das 1:0 Foto: reuters

Aus Amsterdam Johannes Kopp

Joachim Löw mag als Fußballtrainer ein großer Freund der Offensive sein. Auf seinem Arbeitsfeld jenseits des Rasens kann man ihn aber durchaus als Defensivkünstler bezeichnen. Da saß und stand er am Sonntagabend in der Johan-Cruyff-Arena von Amsterdam stabil im Zentrum des Geschehens und ließ sich keinen Millimeter aus der Reserve locken. Mehrfach wurde ihm von den Medienvertretern, die ihn zuletzt massiv angegangen hatten, der Ball für einen Gegenangriff zugespielt. Der Bundestrainer wurde gefragt, was ihm dieser 3:2-Auswärtserfolg über die Niederlande im ersten Qualifika­tionsspiel für die Europameisterschaft 2020 denn bedeute. Und als man seiner Zurückhaltung überdrüssig war, wurde die Vorlage präzisiert: Empfinde er denn keine Genugtuung?

„Ich empfinde manches gar nicht so als Kritik“, antwortete Löw und erwähnte dabei auch die Äußerungen vom Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes, Reinhard Grindel, der die Kommunikationsstrategie bei der Ausbootung von Mats Hummels, Jérôme Boateng und Thomas Müller beanstandet hatte und das dann vor allem als Selbstkritik verstanden wissen wollte. Diese gering ausgeprägte Empfindsamkeit in Bezug auf Kritik und Genugtuung ist gewiss einer der Hauptgründe, warum dieser hochemo­tionale Laden dem Bundestrainer noch nicht um die Ohren geflogen ist.

Am gleichen Ort schien es vor wenigen Monaten fast so weit zu sein, als Löw nach der verpatzten Weltmeisterschaft in Russland den Neuanfang ausgerufen hatte, nur um dann mit einem nahezu unveränderten Team eine 0:3-Heimniederlage hinnehmen zu müssen. Am Sonntag standen nur vier Spieler von damals in der Anfangself, während die Niederlande bis auf eine Ausnahme in gleicher Besetzung antraten.

Auch die Bewertungen von Löw unterschieden sich erheblich. „Die erste Halbzeit war, was das Fußballerische betrifft, überragend“, bilanzierte der 59-Jährige. Für die zweite Hälfte, in der sein Team beinahe die 2:0-Führung verspielte, hatte er erstaunlich viel Lob übrig. Die Mannschaft habe nicht mehr so brilliert, aber „Kampf, Bereitschaft und auch Leidenschaft“ gezeigt.

Beeindruckend war gewiss einerseits, wie beherzt sich Antonio Rüdiger, Leon Goretzka und Toni Kroos in die Schüsse der Niederländer warfen, und andererseits, wie man in letzter Minute wieder Spielkultur aufblitzen ließ, als Nico Schulz nach einer Kombination über Ilkay Gündoğan und den eingewechselten Marco Reus den Siegtreffer erzielte.

Diese Partie gab also viel Stoff für Elogen her, allerdings dürfte die vom Bundestrainer noch zu erstellende Mängelliste auch nicht klein ausfallen. Er deutete es nur mit der beiläufigen Bemerkung an, dass noch einige Arbeit anstünde.

An diesem Abend brauchte es nicht viel Fantasie, um sich ein Szenario des allgemeinen Lamentos vorzustellen. Serge Gnabry beschrieb die Bedrohungslage treffend: „Holland war brutal am Drücker.“ Hätte ein deutscher Abwehrpatzer den Gastgebern den Weg zum Erfolg geebnet, das Geschrei nach Boateng und Hummels hätte alles andere übertönt. Selbst in der von Löw hymnisch gepriesenen ersten Hälfte offenbarte die Verteidigung Unsicherheiten. Dass ausgerechnet Torhüter Manuel Neuer darauf aufmerksam machte, konnte indes auch als verspätete Ehrung seiner geschassten Teamkollegen Hummels und Boateng verstanden werden. In seiner ersten Reaktion hatte Neuer damals nicht gerade viel Mitgefühl gezeigt.

Die deutsche Mannschaft zeigte ihre ganze Schwankungsbreite

Voraussichtlich wird das neu formierte deutsche Team auch künftig einen großen Interpretationsspielraum bieten. ­Gegen die Niederlande zeigte das Team exemplarisch seine ganze Schwankungsbreite. So wie Serge Gnabry und Leroy Sané in der Offensive mit ihrer Schnelligkeit, Ballsicherheit und Dribbelstärke verzückten, werden einige vielleicht die kühne Prognose wagen, die DFB-Elf sei bereits wieder titelreif. Der niederländische Coach Ronald Koeman räumte in seiner Rolle als Niederlagenerklärer ein: „Die haben natürlich ein paar hervorragende Stürmer.“ Ebenso hob der deutsche Na­tio­naltrainer seine beiden auffälligsten Akteure auf dem Rasen hervor: „Serge und Leroy haben ein Superspiel gemacht.“

Umgekehrt können die Klagen über die Krise des deutschen Fußballs jederzeit wieder angestimmt werden, wenn die neue deutsche Defensive vielleicht noch größere Unsicherheiten aufweist als in den Niederlanden. Denn mit seinem verspäteten Umbruch hat Löw zuletzt auch noch seinen letzten Kredit verspielt. Die gelungene Revanche von Amsterdam beschert ihm nun wieder ein wenig Kapital, mit dem sich ruhiger wirtschaften lässt.

Wer Joachim Löw in den Katakomben der Johan-Cruyff-Arena genau zuhörte, der konnte doch ganz sachte Anklänge der Genugtuung vernehmen. „Den Glauben an die Mannschaft hatte ich schon letztes Jahr“, sagte er. Zudem habe man in dieser Partie das Spielglück gehabt, das bei den guten Auftritten in Frankreich (1:2) und bei der Heimpartie gegen die Niederlande (2:2) gefehlt habe.

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