Tonmeister über Stradivari-Digitalisierung: „Jeder Klang ist Geschmackssache“
Thomas Koritke ist Tonmeister und hat den Klang weltbekannter Geigen digitalisiert. Ein Gespräch über Stradivari, Störgeräusche und Straßensperren.
taz: Herr Koritke, warum musste für Ihre Arbeit ein ganzes Dorf wochenlang leise sein?
Thomas Koritke: Zwei Musiker aus dem italienischen Cremona, die unsere Software-Instrumente kennen, haben einen guten Draht zu dem Geigenmuseum von Cremona und die kamen mit der Idee auf uns zu, berühmte Saiteninstrumente aufzunehmen, um deren Klang zu konservieren.
Welche?
Eine Geige und ein Cello von Stradivari, eine Geige von Guarneri und eine Bratsche von Amati. Die Bratsche ist von 1615, das ist das älteste Instrument gewesen.
Und wozu ist die Digitalisierung des Klangs gut?
Auf diese vier Instrumente hat ja kaum jemand Zugriff. Die Geige von Stradivari liegt irgendwo bei zehn Millionen Euro. Ganz genau wollte ich das gar nicht so wissen, das macht einen nur nervös. Wir durften die auch nicht anfassen. Ich habe keine dieser Geigen in der Hand gehabt. Die wurden vom Kurator der Sammlung in die Halle gebracht, der von einem bewaffneten Wachmann begleitet wurde. Dieser Wachmann war bei den Aufnahmen unser einziger Gast. Mit den Einzelklängen am Computer wird es aber bald die Möglichkeit geben, mit diesen Instrumenten selbst zu komponieren und aufzunehmen. Wir haben insgesamt sechs Terabyte an Daten aufgenommen, pro Instrument werden wir für die Software etwa 100.000 Töne und Tonübergänge digital verfügbar machen.
Warum musste für diese Aufnahmen in Cremona Stille herrschen?
Die Umgebungsgeräusche waren das Hauptproblem. In der Halle, in der wir die Instrumente aufgenommen haben, war klar: Wir können nicht jeden Ton zigmal aufnehmen, weil irgendwo draußen ein Störgeräusch auftritt. Wir wollten die Geräusche aber auch nicht hinterher heraus editieren.
Das ist möglich?
Ja. Wie bei einem Bild mit Photoshop kann man auch an einen Ton manipulieren. Aber das wollten wir nicht. Im vergangenen Jahr haben wir die Zusage der Stadt Cremona bekommen, dass sie für unsere Aufnahmen die umliegenden Straßen sperren werden. Zwei der drei Straßen vor dem Museum haben Kopfsteinpflaster.
Das Cremoneser Geigenhandwerk ist immaterielles Kulturerbe der Unesco, der Bürgermeister der Stadt ist zudem Präsident der Museumsstiftung. Gab es Widerstand gegen die Stilllegung der Umgebung?
Nein, das alles hat uns natürlich sehr geholfen.
Die Bewohnerinnen und Bewohner wurden vom Bürgermeister gebeten, unnötigen Lärm zu vermeiden. Wie wurde das angenommen?
Eine knappe Woche vor den Aufnahmen gab es diese Pressekonferenz, um die Bewohner über dieses Projekt zu informieren. Worum es da geht und wie wichtig das ist, dass es tagsüber zu den Aufnahmezeiten relativ ruhig ist. An vielen Tagen war es wirklich über Stunden richtig still. Ganz erstaunlich. Bei einem Parkplatz, den die Bewohner sonst zum Einkaufen nutzen und der geschlossen wurde, gab es schon Diskussionen, glaube ich. Für die Absperrungen gab es einen Wachdienst, das war in den ersten Tagen die lokale Polizei, danach wurde das von einem privaten Wachdienst übernommen. Die haben drauf geachtet, dass es keinen Durchgangsverkehr gibt.
Hätten die Aufnahmen nicht auch woanders als in dem zentral gelegenen Museum stattfinden können?
Natürlich hätte man auch einfach in ein Tonstudio gehen können. Aber für uns war klar, dass wir die Instrumente in der Halle aufnehmen wollen. Die Halle ist 2012 gebaut worden. Das Akustikdesign hat Yasuhisa Toyota aus Japan gemacht, der auch die Elbphilharmonie gemacht hat. Das ist eine relativ kleine Halle, 460 Plätze hat die nur. Die ist wirklich gemacht für Solo- und kleine Kammermusikbesetzungen. Ich will nicht sagen die Hälfte, aber bestimmt 30 oder 40 Prozent des Klangs kommt auch durch den Raum, in dem das Instrument gespielt wird. Da war klar, dass wir versuchen müssen, das ein oder andere Störgeräusch in Kauf zu nehmen.
Sie haben Störgeräusche dann akzeptiert?
Nein. Also, wenn wir gesagt haben, wir müssen mit den Zähnen knirschen, dann haben wir die Aufnahme gestoppt und gewartet, bis es vorbei war. Der Musiker musste dann eben nochmal neu ansetzen. Das ist natürlich extrem anstrengend und frustrierend, auch für den Musiker. Das sind wahnsinnige Anforderungen, was die Konzentration angeht. Der muss ja diese einzelnen Töne über den ganzen Bereich, der auf einer Geige möglich ist, spielen. Mit Übergängen auf andere Töne. In ganz unterschiedlichen Lautstärken und Intensitäten muss das alles ganz sauber und akkurat gespielt sein. Das ist auch körperlich anstrengend.
Welche Geräusche sind trotz der angeordneten Stille noch durchgeschlüpft?
Kritisch wurde es bei allem, was extrem leise gespielt wurde. Pizzicato, so ganz leise gezupft – das ist wirklich ultraleise. Da fällt einem alles auf an Störgeräuschen. Die Autos waren unser größtes Problem. Was extrem stört, ist, wenn ein Motor hochtourt. Das kommt dann in den Tonbereich der Geige, beim Cello ist es sogar noch kritischer. Dann haben wir die Aufnahme gestoppt. Und man hört eben alles: Ein Hund bellt, irgendwo fällt eine Tür zu.
Jahrgang 1966, lebt mit seiner Frau in Nottensdorf bei Buxtehude. Schon mit elf Jahren wollte er Tonmeister werden.
In Hamburg hat er Informatik und Systematische Musikwissenschaft studiert und dabei erste Erfahrungen in Tonstudios gesammelt.
Er hat lange Jahre für den Musikinstrumentenhersteller Yamaha Digitalpianos mitentwickelt und dort die Anfänge der Samplingtechnologie erlebt.
Seit 2009 ist er Geschäftsführer der e-instruments lab GmbH in Hamburg-Harburg, mit der er Musiksoftware entwickelt, die ihren Ursprung in der Aufnahme analoger Instrumente hat.
Haben Sie auch in der Nacht aufnehmen können?
Da haben wir natürlich drüber nachgedacht. Da gab es aber so viel Komplikationen mit den Arbeitsschutzmaßnahmen in Italien. Zum Beispiel für die Wachleute, die immer dabei sein mussten. Das Beste wäre es gewesen, abends um zehn Uhr anzufangen bis morgens um sechs. Das ließ sich nicht machen. Die Aufnahmetage gingen immer abends bis viertel nach zehn. Richtig gut waren die Wochenenden. Es war ja auch schon außergewöhnlich, dass wir die Halle fünf Wochen am Stück okkupieren konnten. In der Zeit gab es keine Konzerte dort.
Haben Sie während der Aufnahmen eine besondere Beziehung zu den Instrumenten entwickelt?
Ich habe Kontrabass gelernt, der war nicht dabei. Das war schon mal ganz gut. Ich finde einfach den Klang von dem Cello toll. Dieser warme, sonore Ton. Bei den Geigen war die von Stradivari schon interessant. Es war auch toll, über unser Setup von 32 Mikrofonen die Einzelheiten des jeweiligen Klangs wie unter einem Mikroskop zu hören. Das war erstaunlich, wie extrem unterschiedlich die klingen.
Manche vermuten das Geheimnis des Klangs einer Stradivari im Lack, andere erklären den besonderen Ton mit einer klimatischen „kleinen Eiszeit“ zum Zeitpunkt der Fertigung der Instrumente. Bei der Vesuvius-Stradivari aus dem Geigenmuseum in Cremona sagt der Mythos, dass Vulkanasche vom Vesuv im Bau verwendet wurde. Was denken Sie?
Den Namen hat die Geige, weil sie eine bestimmte Deckenform hat, die an den Vesuv erinnert. Ich mir ziemlich sicher, dass da keine Asche mit drin ist. Diese kleine Eiszeit hat tatsächlich dazu geführt, dass die Jahresringe im Holz sich anders ausgebildet haben. Das hat schon einen Einfluss auf den Klang. Ich denke aber auch, dass dieser traditionelle Geigenbau in der Stadt damals viel Konkurrenz gefördert hat und sich die Geigenbauer gegenseitig zu Höchstleistungen gebracht haben. Der eine Geiger hat mir einen Witz erzählt, den fand ich ganz gut.
Wie geht der?
Also, Amati, Guarneri und Stradivari hatten alle ihre Läden in der gleichen Straße. Und eines Tages hat Guarneri ein Schild rausgestellt, dass hier der beste Geigenbauer Europas arbeitet. Einen Tag später hat Amati dann auch ein Schild aufgestellt: Hier arbeitet der beste Geigenbauer der Welt. Am folgenden Tag hatte Stradivari ein Schild, auf dem stand: Hier arbeitet der beste Geigenbauer der Straße.
Sind die Instrumente tatsächlich so außergewöhnlich?
Das ist ja immer Geschmackssache. Jeder Klang ist Geschmackssache. Es wird auch Leute geben, die den Klang einer 120-Euro-Schulgeige schön und vielleicht auch besser finden. Und das ist auch völlig legitim. Ich glaube, für den Musiker ist das etwas ganz anderes als für Leute wie mich, die das einfach nur hören.
Wieso?
Der Musiker hat andere Nuancen in der Ausdrucksmöglichkeit. Diese alten Instrumente sind außerdem wirklich laut und das war natürlich zu Zeiten, in denen es keine Mikrofone und Lautsprecher gab, auch ein Faktor. Wenn man sich mit einer Solo-Geige gegen ein Orchester durchsetzen wollte, hat eine wirklich laute Geige einfach besser funktioniert. Erstaunlich ist für mich vor allem, was vor 300 Jahren an handwerklicher Qualität schon möglich war und bis heute überdauert.
In Blindtests konnten Expertinnen und Experten den Klang einer Stradivari häufig nicht ausmachen und oft wurde eine modernere Geige bevorzugt.
Klang ist eben subjektiv. Ich finde es viel interessanter, was Musiker zu diesen Instrumenten sagen. Wie können die sich auf dem Instrument ausdrücken und was können sie umsetzen in ihrer Vorstellung von Klang? Wie feinfühlig reagiert das Instrument?
Wie lange werden die Instrumente noch spielbar sein?
Das ist ganz unterschiedlich. Manche sind super in Schuss, aber bei den größeren Instrumenten wie dem Cello merkt man die Zeit langsam. Holz ist organisches Material, Holz altert. Die werden natürlich super gepflegt. Aber irgendwann klingen sie nicht mehr so oder lassen sich nicht mehr so schön spielen. Wann genau das sein wird, das weiß aber keiner.
Die Konservierung des Klangs stand bei Ihrem Projekt in Cremona also im Vordergrund?
Das war so ein Punkt. Wir nehmen die Instrumente und versuchen, aus denen eine digitale Version zu machen, mit der man dann wiederum in der Software am Ende Musik machen kann. Konservieren – ja, das kann man eigentlich schon sagen. So, wie sie jetzt gerade klingen.
Waren die Bewohnerinnen und Bewohner von Cremona erleichtert, als sie wieder laut sein konnten?
Das schien mir fast so. Am letzten Tag, als wir fertig waren, war der Parkplatz wieder voll. Aber die sind jetzt auch nicht 24 Stunden am Tag auf Zehenspitzen herumgeschlichen. Ich glaube, das war zumutbar. Einer der Wachmänner, der eine Straße gesperrt hat, erzählte mir Folgendes: Als jemand draußen etwas lauter war, kam ein anderer und ermahnte ihn: Leise, da drüben nehmen welche auf.
Und wie ging es Ihnen nach Abschluss der Aufnahmen?
Wir haben erst einmal eine Woche gar nichts gemacht. Wir haben davor jeden Tag zwischen acht und zwölf Stunden aufgenommen, ohne Pause. Wenn man da an den letzten Tagen ankommt, das ist schon wirklich anstrengend. Ich habe dann auch keine Musik mehr gehört, sondern nur die Stille genossen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein