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Installationskunst in HamburgÜber- und Unterwältigung

Unten dröhnend, oben still und dunkel: Der Kunstverein zeigt zwei ganz unterschiedliche Installationen von Hannah Perry und Marguerite Humeau. Grenzüberschreitend sind beide

Tanz mit sich selbst: Hannah Perrys Installation „A smashed Window and an empty Room“ Foto: Fred Dott

Hamburg taz | Der Norden Englands ist eine Stahlregion. Bergbau, Schwer­industrie, Armut, dazu das Trauma des Strukturwandels. Hannah Perry, geboren 1984 in Chester, auf halber Strecke zwischen Liverpool und Wales, lebt heute in London; die Vergangenheit der Industrieregion prägt ihre Arbeit aber weiter.

Im Erdgeschoss des Hamburger Kunstvereins ist Perrys raumgreifende Installation „A smashed Window and an empty Room“ zu sehen: eine hoch technisierte Überwältigungsmaschine voll schwerindustrieller Gewalt. Drei riesige, von hinten mit Lautsprechern bestückte Aluminiumwände durchziehen den Saal, vibrieren leicht und werfen entsprechend ein verwackeltes Spiegelbild des Betrachters zurück in die Ausstellung. Die Lautsprecher legen freilich nur einen leisen Industrial-Ton auf die Metallfläche; für den ohrenbetäubenden Lärm ist etwas anderes verantwortlich: eine Maschine, die sich hinter der dritten Wand versteckt. Eine Presse, die zwei nicht ganz aufeinander passende, gezackte Bleche unablässig gegeneinander drückt, worauf diese sich neu justieren und eine weitere Pressung erfahren.

Die einander so immer wieder verpassenden Objekte erinnern einerseits an einen ungeschickten Liebesakt, andererseits an eine Maschinerie, deren Grundprinzip zwar verhältnismäßig offensichtlich ist, deren genaue Funktionsweise (und vor allem deren Zweck) sich einem aber entzieht. Details verwirren darüber hinaus: der grobe Es­trich unter der Maschine, die angesichts der cleanen Anmutung des Arrangements bewusst gesetzten Arbeitsspuren, das wenige Zentimeter hohe Mäuerchen, das das Foyer von der Ausstellung abtrennt, grauer Backstein, der wie von einem öligen Farbfilm verziert wirkt.

Die Arbeit, die, so die Künstlerin, „Momente von Gewalt, Zärtlichkeit und Intimität durch einen mechanisierten Tanz mit sich selbst“ beschwöre, ist feiner gearbeitet, als es auf den ersten, betäubenden Blick den Eindruck macht. Am Ende bleibt aber doch nur das Krachen, Knirschen und Pfeifen des Arrangements. Und das Mitleid mit dem Kunstvereinsmitarbeiter, der diese akustische Überwältigung stundenlang ertragen muss.

Rauschhafte Reise

Sich im gleichen Raum auf Perrys immersiven Film „GUSH“ zu konzentrieren, ist jedenfalls nahezu unmöglich: Die 20-minütige Virtual-Reality-Präsentation ist als Bewusstseinsstrom zwischen Intimität, Gewalt und Isolation nicht uninteressant, wird aber überlagert von der radikalen Lärmästhetik aus „A smashed Window and an emp­ty Room“.

Im Obergeschoss dann das Gegenprogramm: Hier hat Marguerite Humeau ihre Installation „Ecstasies“ aufgebaut: kleine bis winzige Stein- und Bronzeskulpturen im Halbdunkel, teils schwer erkennbar, teils akzentuiert beleuchtet. Dazu ertönt ein irritierender Soundtrack, Gesänge, Stöhnen, Atmen, Heulen, eine Skulptur scheint einen aggressiv anzuzischen, als man sich ihr nähert. Meditativ, unterwältigend.

Die Skulpturen erinnern teilweise an sehr alte Kunst, etwa an die paläolithische „Venus vom Hohlefels“, die 2008 bei Ausgrabungen auf der Schwäbischen Alb entdeckt wurde und heute mit rund 35.000 Jahren als eines der ältesten Kunstwerke der Menschheit gilt: mehr oder weniger naturalistisch gearbeitete menschenähnliche Figuren mit überdimensionierten Geschlechtsmerkmalen, Fruchtbarkeitssymbole vielleicht.

Tatsächlich baute die 1986 im westfranzösischen Cholet geborene und heute wie Perry in London arbeitende Humeau ihre Skulpturen nach 3-D-Modellen prähistorischer Vorbilder. Inhaltlich geht „Ecstasies“ allerdings noch viel weiter zurück: in eine mythische Vorzeit vor rund 150.000 Jahren, als Menschen erstmals psychoaktive Substanzen zu sich nahmen und so eine Erweiterung der eigenen sensorischen und kognitiven Fähigkeiten vornahmen – laut der Archäologin Bette Hagens der Ursprung von Sprache, Religion und Kunst.

Konsequent weibliche Perspektive

„Ecstasies“ provoziert so eine eigene psychoaktive Reise, zwischen Figuren, die mal an übergroße Vulvalippen erinnern, mal an ineinander verschlungene Körper, mal an freigelegte Gehirne (deren Verzehr wohl der erste Schritt hin zur neuronalen Umgestaltung war). Tatsächlich bleibt die Installation eine Simulation, die eine echte Reise in neue Bewusstseinszustände mehr andeutet als nachvollziehbar macht. Trance oder Rauschzustände stellen sich allerdings sehr wohl ein, wenn man längere Zeit auf den bereitliegenden Schaumstoffmatratzen lagert, die fremdartigen Klänge auf sich einstürmen und das Halbdunkel wirken lässt.

Im hinteren Raum finden sich noch mehrere Tische mit comicähnlichen Aufzeichnungen über eine Art Evolution; ein in sich logisch wirkendes, wenngleich nicht entzifferbares Notationssystem. Die vordergründig klare Struktur verliert sich so im dunklen Raunen, das die gesamte Installation prägt.

Zwei extrem unterschiedliche Arbeiten: dröhnend, mit klarem Bezug auf einen sozialen Kontext bei Perry; still, dunkel und in eine mythische Vergangenheit gerichtet bei Humeau. Tatsächlich aber formulieren beide eine konsequent weibliche Perspektive, beide überschreiten die Grenzen der Kunst auf der Suche nach einer alternativen Position, wobei Perry hier auf Industrie und Technik zurückgreift, Humeau auf Archäologie und Neurobiologie.

Hannah Perry und Marguerite Humas

Bis 21. April, Kunstverein in Hamburg

Auch biografisch gibt es Gemeinsamkeiten bei den beiden fast gleich alten Künstlerinnen, die beim Arbeitsort London beginnen, bei der Auseinandersetzung mit dem Genre Installation weitergehen und beim Gefühl, kurz vorm Durchbruch am Kunstmarkt zu stehen. Wobei Humeau hier schon einen Schritt weiter scheint: Sie ist Trägerin des Zürich Art Prize, hatte Einzelshows in der Tate Britain und im Pariser Palais de Tokyo, war Teil von Gruppenpräsentationen im New Yorker Moma und im Münchner Haus der Kunst. Perrys „A smashed Window and an empty Room“ ist hingegen die erste institutionelle Einzelausstellung der Britin in Deutschland.

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