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Leukämie-Patient über seine Krankheit„Es gibt eine Chance für mich“

Die Diagnose Leukämie änderte Sören Jäckels Leben. Ein Gespräch über fremdbestimmte Todesurteile, Kampfeswillen und seine Strichliste der Beileidsfloskeln.

Wollte erstmal ein eigenes Auto, wenn er aus dem Krankenhaus kommt: Sören Jäckel Foto: Nikolai Wolff / Fotoetage
Interview von Frieda Ahrens

taz: Herr Jäckel, wie viele Menschen haben sich für Sie als Knochenmarkspender registrieren lassen?

Sören Jäckel: Es waren 601 neue Spender.

Kennen Sie alle persönlich?

Bei Weitem nicht. Wir haben die Aktion beim Sportfest der Uni Hannover stattfinden lassen und die meisten Leute waren spontan dabei. Das endete auch in absurden Szenen: Es lief das Fußballturnier und die Spieler der Mannschaften, die gerade nicht gespielt haben, sind durchgeschwitzt reingekommen, haben sich registrieren lassen und sind wieder aufs Feld.

Wie kam es zu der Idee?

Das haben Freunde von mir organisiert. Die haben mitbekommen, dass ich einen Spender brauche und haben Kontakt zur Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) hergestellt. Das Ganze ging relativ schnell los. Die haben sich um die Örtlichkeit, um Tische und Stühle gekümmert – ein paar Vorgaben mussten erfüllt sein – und los ging’s.

Wann haben Sie erfahren, dass Sie an Leukämie erkrankt sind?

Es hat ganz lächerlich angefangen mit Rückenschmerzen. Erst habe ich gedacht, ich hätte mich verlegen. Das ist dann ausgestrahlt Richtung Hüfte, sodass ich irgendwann nicht mehr laufen konnte. Ich war beim Hausarzt, der hat mir sehr starke Schmerzmittel verschrieben und meinte, ich solle zum Orthopäden gehen, damit er nochmal drauf schaut und mich einrenkt. Hat er auch getan – war sehr angenehm, hat aber gar nicht geholfen.

Und dann?

Am 3. Januar 2018 bin ich ins Krankenhaus gekommen. Ich konnte nicht mehr laufen vor Schmerzen. Ich habe Diabetes und meine Blutzuckerwerte waren durcheinander. Das ist meistens ein Alarmsignal. Da hat meine damalige Freundin den Rettungswagen gerufen – und mir damit vermutlich das Leben gerettet. Es hätte sonst böse enden können. Das Krankenhaus hat mich nach einem Bluttest zur MHH geschickt, das ist eine Spezialklinik unter anderem für Leukämie. Da gingen die ganzen Untersuchungen erst richtig los und da ist festgestellt worden, dass es Leukämie ist. Das hieß erst einmal zwei Monate Krankenhausaufenthalt in der Leukämie-Station.

Was passiert bei der Krankheit im Körper?

Das kann man sich so vorstellen, dass die Stammzellen einen kleinen Defekt entwickeln. Normalerweise wird das vom Immunsystem bekämpft, weil es den Fehler erkennt. Bei mir hat das Immunsystem nicht reagiert. Das heißt, die kaputte Zelle hat sich geteilt und ausgebreitet. So wird eine Art Kettenreaktion gestartet. Bei mir waren am Ende 98 Prozent der Zellen kaputt.

Und was wurde dann gemacht?

Ich habe erst eine sehr starke Chemotherapie bekommen. Da werden die gesunden und die Krebszellen getötet. Man hofft darauf, dass danach alle defekten Zellen weg sind und sich nur noch gesunde Zellen regenerieren. Meine Leu­kämie-Art, das ist die Akute Lymphatische Leu­kämie, ist oft durch eine solche Chemo zu heilen.

Ich habe die Frage, wie lange ich noch habe, oft im Kopf gehabt, sie mir aber nie wirklich gestellt. Ich wollte es nicht wissen

Bei Ihnen war das anders?

Bei mir wurde nach vier Monaten festgestellt, dass die Chemo es nicht schafft, alle Krebszellen zu vernichten. Das ist die schlechtmöglichste Botschaft. Es bedeutet, dass man ohne eine Stammzellenspende auf jeden Fall sterben wird.

Wie ging es Ihnen damit?

Ich habe die Frage, wie lange ich noch habe, oft im Kopf gehabt, sie mir aber nie wirklich gestellt. Ich wollte es nicht wissen. Dann dreht man ja komplett durch. Ich dachte, man wird es dann schon merken. Und so lange es nicht total bergab geht, will ich das Leben noch genießen.

Was war Ihre erste Reaktion auf diese schlechteste aller Botschaften?

Kampfeswille. Als klar war, dass ich eine Stammzellenspende brauche, bekam ich eine leichte Form von Chemo, die sich nicht so stark auf den Körper auswirkt. Währenddessen konnte ich zu Hause sein. Es gab relativ schnell eine Spenderübereinstimmung, aber der hat sich nicht zurückgemeldet. Das war für mich sehr tragisch, weil das einem fremdbestimmten Todesurteil gleich kommt. Ende Mai wurde ein zweiter Spender gefunden – in Dänemark. Er hatte zwölf von zwölf Genen passend, also wirklich ein hundertprozentiger Spender. Da wurde fleißig angestoßen. Es war klar: Für mich ist doch nicht in einem Jahr Feierabend, sondern es gibt eine Chance.

Wie geht es Ihnen seit der Transplantation?

Die meisten denken, das ist eine Operation. Das stimmt nicht. Das ist total unspektakulär, man wird sechs Stunden an den Tropf angeschlossen. Das sieht so aus, als bekäme man normales Blut als Infusion. Keine Narkose oder so. Man denkt schon: Das soll es gewesen sein? Bis die Ärzte dir erklären, dass die wirklichen Herausforderungen erst nach der Transplantation anfangen.

Wieso?

Es könnten Abstoßreaktionen ausgelöst werden. Da die gespendeten Zellen Immunzellen sind, kann es eben passieren, das sie den Körper als Feind sehen und angreifen. Dagegen gibt es starke Medikamente, die heftige Nebenwirkungen auslösen.

Das heißt, Ihnen geht es besser, aber Sie sind immer noch nicht gesund?

Im Interview: 

Genau. Die nächsten vier Jahre sind noch kritisch. Wenn ich so lange keinen Krebs mehr habe, gelte ich als geheilt. Jetzt gerade muss ich noch alle vier Wochen in die Ambulanz und bin noch in so einer Art Gefährdetengruppe. Für mich heißt es: Kräfte und Muskeln aufbauen.

Kennen Sie Ihren Spender?

Nein. Ich weiß nur, dass er aus Dänemark kommt, dass er 1967 geboren und männlich ist. In zwei bis drei Jahren darf ich Kontakt aufnehmen und dann möchte ich ihn unbedingt kennenlernen.

Warum müssen Sie so lange warten?

Das ist eine Schutzmaßnahme der DKMS. Die geben die Daten vorher nicht raus. Denn wenn ich Kontakt zu ihm hätte und dann die Leukämie zurückkäme, könnten Gedanken kommen wie: Seine Zellen waren nicht gut genug. Oder meine Familienmitglieder könnten durchdrehen und ihm die Schuld geben. Deshalb gibt es so eine Art Pufferzone.

Wie war das Ganze denn für Ihre Freunde und Familie?

Meine Eltern hat es wirklich heftig getroffen, das habe ich denen angemerkt. Ganz am Anfang konnten die damit gar nicht umgehen, waren in einem Schockzustand. Das hat sich vor allem in Vergesslichkeit geäußert. Wenn sie bei einem Besuch was von Zuhause mitbringen sollten, kamen die manchmal an und hatten nichts mit, weil die das nicht mehr koordinieren konnten. Sie haben sich auch Urlaub genommen, weil ihre Gedanken nur noch um meine Krankheit kreisten. Bei meinen Freunden war es auch erst ein Schockzustand, aber danach war die Reaktion meistens direkt auch: Was kann man machen? So kam auch die DKMS-Aktion relativ zügig zustande. Die wollten mehr machen, als nur an meinem Bett zu sitzen und Händchen zu halten.

Die Spendenaktion haben Ihre Freunde organisiert?

Ja, die haben Kontakt mit DKMS aufgebaut und alles organisiert. Durch Mundpropaganda hat sich das rumgesprochen. Das hat sich wie ein Schneeballsystem ausgebreitet. Es wurden Flyer gedruckt und in meinem Heimatort ausgeteilt und in Firmen an schwarze Bretter angepinnt. Es wussten irgendwann wirklich alle Bescheid.

Ist das nicht auch nervig? Wenn alle wissen, wie krank man ist?

Es melden sich halt super viele Menschen. Da entwickelt man schon so eine gewisse Professionalität im Annehmen von Mitleidsbekundungen. Und man nimmt das auch an von denen, die man eigentlich nicht mag. Da gibt man dann eine klassische 0815-Antwort und ist wieder aus dem Schneider.

Wie lenken Sie sich ab?

Im Krankenhaus habe ich enorm viel Musik gehört und da gibt es inzwischen einige Lieder, die ich gar nicht mehr hören kann. Da kommen Gefühle hoch, das ist nicht gut auszuhalten.

Gab es auch einen Spruch, den Sie irgendwann nicht mehr hören konnten?

Ich hatte irgendwann mal im Handy eine Liste mit Sprüchen und habe mir immer einen Strich gemacht, wenn einer von denen gesagt wurde. Es ist echt witzig, wie oft die gleichen Worte gewählt werden, auch wenn die Leute sich gar nicht kennen. Daran merkt man, wie schwer es offenbar ist, die richtigen Worte zu finden.

Was machen Sie beruflich?

Ich bin Fachinformatiker im öffentlichen Dienst. Ich arbeite an Computern und sorge dafür, dass die Server laufen. Damit habe ich im Dezember 2017 angefangen, habe vier Wochen gearbeitet und bin im Januar 2018 ins Krankenhaus gekommen. Da war klar, dass ich ein Jahr mindestens nicht mehr arbeiten kann. Ich war noch voll in der Probezeit und die haben trotzdem gesagt, dass es in Ordnung ist und dass ich mir keinen Kopf wegen einer Krankschreibung machen soll. Die stehen hinter mir. Das fand ich sehr beeindruckend.

Wann fängt die Arbeit wieder an?

Noch nicht, ich will aber unbedingt wieder arbeiten. Ich habe schon angefangen, meine Wohnung komplett aufzuräumen. Richtige Streber-Langeweile-Arbeit. Hoffentlich kann ich im März wieder durchstarten.

Was haben Sie denn in Zukunft vor?

Meinen ersten Zukunftsplan habe ich schon umgesetzt. Im Krankenhaus gab es irgendwann einen Punkt, da war ich mental und körperlich völlig am Boden. Da habe ich überlegt, was ich in näherer Zukunft erreichen kann. Das Ziel war: Ein eigenes Auto zu kaufen, wenn ich überlebe und aus dem Krankenhaus rauskomme. Genau das habe ich gemacht und flitze damit jetzt durch die Gegend. Sonst habe ich mir vorgenommen, nicht mehr zu zögern. Das klingt jetzt sehr dumm, aber ich habe vorher oft gedacht: Ach, mach ich später oder nächstes Jahr. Genau das will ich nicht mehr. Ich weiß gar nicht sicher, ob es ein nächstes Jahr gibt. Die Einstellung hat in meiner Familie auch schon Fuß gefasst.

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1 Kommentar

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  • „Es gab relativ schnell eine Spenderübereinstimmung, aber der hat sich nicht zurückgemeldet. Das war für mich sehr tragisch, weil das einem fremdbestimmten Todesurteil gleich kommt.“

    Leider passiert das sehr oft, und liegt in der deutschen Bürokratie (und der menschlichen Natur) begründet:

    Ein Freiwilliger läßt sich typisieren und mit seiner aktuellen Adresse registrieren. Dann vergehen Jahre. Der Spender zieht um – und denkt gar nicht mehr daran, daß er ja noch mit der alten Adresse in der Spender-Kartei steht.

    Nun wird in der Kartei für einen Patienten dieser Spender gefunden, angeschrieben – und die Anfrage läuft ins Leere. Und für den Patienten platzt eine große Hoffnung. Und die DSGVO und ähnliche bürokratische Hürden verhindern, daß der Spender gefunden werden kann.

    Warum wird die Spender-Nummer nicht im deutschen Personalausweis gespeichert? Dann wäre dieses Stück Plastik wenigstens für eine Sache gut. Und dank Zwangs-Ummeldung liegt immer die aktuelle Adresse vor.

    Die Knochenmarkspenderzentrale der Uniklinik Düsseldorf typisiert im Rahmen von BluStar NRW viele asiatische Spender. Weil insbesondere die Studenten nach einigen Jahren in ihr Heimatland zurückkehren, wird dort die Spender-Nummer bei The SOS Card Project gespeichert: So kann über den Umweg über die Familienangehörigen der Spender auch nach Wegzug noch gefunden werden. Weil in den asiatischen Ländern (mit Ausnahme Japans) nur wenige Spender registriert sind und die deutsche Spender-Kartei international abgerufen werden kann, stehen so auch mehr und mehr Spender in diesen Ländern bereit.