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Psychologin über Online-Selbsthilfe„Depression ist ein Massenthema“

Jeder zweite Psychotherapie-Patient bekommt keine Behandlung. Nora Blum hat ein Online-Portal zur Selbsthilfe aufgebaut.

Psychotherapie war schon Thema am Esstisch ihrer Eltern: Nora Blum Foto: Miguel Ferraz
Jan Paersch
Interview von Jan Paersch

taz: Frau Blum, wie geht’ s Deutschland, psychisch gesehen?

Nora Blum: Verbesserungswürdig. Es gibt in Deutschland noch immer sehr viele Menschen, die unter psychischen Erkrankungen leiden. Um die zehn Millionen Menschen haben Angststörungen und Depressionen. Diese Zahl ist seit Langem in etwa konstant, nur die Offenheit ist größer geworden. Die Anzahl derer, die Hilfe in Anspruch nehmen wollen, steigt. Viele davon bekommen diese Hilfe aber nicht.

Sie kommen aus einer Familie von Psychologen, richtig?

Meine Mutter ist Psychotherapeutin, mein Onkel Psychoanalytiker. Mein Bruder ist mittlerweile Life-Coach. Bei uns zu Hause am Esstisch war Psychologie ständig Thema. Meine Mutter hat uns schon früh Techniken beigebracht, wie wir es selbst schaffen, uns besser zu fühlen. Zum Beispiel, wenn ich nicht schlafen konnte.

Was haben Sie dann gemacht?

Viele Menschen geraten in eine Gedankenspirale. Das kennt jeder: Was muss ich morgen alles machen, hab ich dies und jenes bedacht? Es ist ein einfacher Trick, aber er hilft: vor dem Schlafengehen seine Gedanken externalisieren. Alles aufschreiben, dann ist das Wirrwarr nicht im Kopf, und auch hinzufügen, was man tun will, damit alles funktioniert. Ich war immer schon proaktiv, um zu schauen, wie ich Dinge ändern kann. Ich habe zum Beispiel eine Liste meiner Ressourcen angelegt, die half mir, wenn ich traurig war. Ich bin davon überzeugt, dass das eine gute Präventivarbeit gegen psychische Erkrankungen ist.

Was kam noch am Esstisch zur Sprache?

Gefühle wurden immer ausdiskutiert. Ich habe das als Privileg empfunden. Ich wurde zwar bedauert, schließlich ist meine Mutter auch Paar- und Sexualtherapeutin. Aber wenn meine Freundinnen bei uns anriefen, wollten sie oftmals nur mit ihr sprechen. Sie meldeten sich wegen ihres Liebeskummers, und dann schrieb meine Mutter mit ihnen Listen.

Ein einfacher Trick: vor dem Schlafengehen seine Gedanken aufschreiben, dann ist der Wirrwarr nicht im Kopf

Ihr Berufswunsch war also früh klar?

Ich konnte gar nicht verstehen, wie jemand etwas anderes als Psychologie machen wollen könnte. Für mich gab es immer schon nichts Spannenderes als herauszufinden, warum wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten. Ich habe die Entscheidung nie bereut, das Fach zu studieren. Ich fand alles spannend.

Dafür brachten Sie ein gutes Abitur mit?

Ich war schon immer eine Streberin. Ich habe einfach gerne gelernt. Ich habe die Abiturnote 1,0 gemacht und wurde deshalb für ein Stipendium vorgeschlagen. Ich habe dann im englischen York meinen Bachelor gemacht und bin für den Master nach Cambridge gegangen. Dort hatten viele Psychologen, die ich bewunderte, studiert. Ich habe mich auf Sozialpsychologie und Hirnforschung fokussiert. Um das Stipendium zu behalten, musste ich stets zu den besten zehn Prozent gehören.

Was kam danach?

Ich wollte nicht direkt in die Klinische Psychologie. Und eigentlich wollte ich erst einmal etwas anderes, Aufregendes machen. So bin ich beim Startup-Inkubator Rocket Internet gelandet, in der Abteilung, die die unterschiedlichen Unternehmen aufbaut.

Ganz ohne betriebswirtschaftliche Kenntnisse?

Ich musste in kurzer Zeit sehr viel lernen. Das hat mir als Gründerin später sehr geholfen. Mein erstes Projekt war gleich Foodora. Die wuchsen rasend schnell, jede Woche verdoppelte sich die Mitarbeiterzahl. Meine Mutter meinte schon zu mir: Es ist ja in Ordnung, wenn du viel arbeitest, aber muss es unbedingt ein Essens-Lieferservice sein? Und auch ich dachte mir, dass ich eigentlich gerne wieder etwas mit Psychologie machen wollte.

Sie bekamen die Idee für Ihr Online-Soforthilfe-Portal gegen psychische Belastungen.

An Selfapy arbeitete ich zu der Zeit schon intensiv am Wochenende. Das Versorgungsdefizit in Deutschland ist riesengroß. Jeder zweite Patient bekommt keine Behandlung. Die Wartezeit beträgt im Schnitt fünf Monate. In der Psychia­trie, in der ich ein Praktikum gemacht hatte, wurden Menschen nur aufgenommen, wenn sie knapp vorm Suizid standen.

Im Interview: Nora Blum

27, wuchs in Hamburg-Lokstedt als Tochter eines Anwalts und einer Therapeutin auf. Nach dem Psychologie-Studium in England baute sie das Online-Portal Selfapy auf, das Hilfe bei psychischen Belastungen vermittelt. Nora Blum lebt in Berlin.

Nun geht es ja nicht allen Therapiebedürftigen so schlimm.

Jeder zweite Mensch erkrankt mindestens einmal im Leben an einer depressiven Episode. Das ist ein Massenthema. Meine Mitgründerin Katrin Bermbach arbeitete in der Charité Berlin. Ihre Hauptaufgabe war es, Therapieplätze abzusagen! Obendrein ist die Hemmschwelle groß. Im Studium habe ich erlebt, wie viele abgebrochen haben, weil der psychische Druck zu groß wurde. Wir haben uns gedacht: Es muss eine nie­drigschwellige Beratung geben, die sofort hilft, ein Online-Programm mit psychologischer Begleitung. An der Charité fing Katrin dann an, erste Kurse zu ­schreiben.

Ihr Online-Portal fing also ganz analog an?

Wir haben Bücher gewälzt und forschungsbasierten Content geschrieben, den wir mit den Charité-Professoren abgeglichen haben. Dann haben wir den Fragebogen kostenlos auf einer E-Learning-Plattform angeboten. Schon damals haben wir den Patienten angeboten, zusätzlich einmal die Woche ein Telefongespräch mit PsychologInnen führen zu können. Das waren damals nur wir beide. Das wurde sehr gut angenommen. Schließlich haben wir den Sprung ins kalte Wasser gewagt und ich habe bei Rocket Internet gekündigt. Die Tage waren lang, aber es hat unglaublich viel Spaß gemacht.

Ist das nicht eine Krankheit unserer Zeit, dass keiner mehr weiß, wo die Arbeit aufhört und wo die Freizeit anfängt?

Der Job soll heutzutage Selbstverwirklichung sein. Das ist schon so. Da muss man ein gutes Mittelmaß finden. Ich nehme mir mittlerweile auch mal Tage, an denen ich keine Mails beantworte. Aber Selfapy ist meine große Liebe, das Unternehmen habe ich immer im Kopf. Das ist gut, wenn es gut läuft, aber wenn es Probleme gibt, fällt es mir schwer, mich davon zu lösen.

Nun sind Sie Geschäftsführerin, mit 27 Jahren.

Der Titel bedeutet eigentlich nur, dass ich für alles zuständig bin. Heute fokussiere ich mich auf die Zusammenarbeit mit den Investoren und Krankenkassen. Wir müssen denen 113 gesetzliche Verträge vorlegen, dazu kommen 30 private. Ich tingele dafür durch das ganze Land. Es gibt ja so viele Kassen! Bisher übernimmt nur ein Teil davon die Kosten unserer Programme.

Im Schnitt kosten Ihre begleiteten Programme 100 Euro im Monat. Was ist, wenn Bedürftige das nicht zahlen können?

Wer es sich wirklich nicht leisten kann, der bekommt Rabatt. Wir wollen keine Abstriche machen, was die Wirksamkeit der Programme angeht. Wir sind kein Social-Profit-Unternehmen, aber unser Hauptziel ist auch nicht die Profitmaximierung. Investoren sind meist nicht begeistert davon, dass wir die kostenintensive telefonische Betreuung anbieten. Aber wir wollten nie ein reines Tech-Produkt machen. Menschlicher Kontakt ist wichtig.

Sie werben mittlerweile nicht mehr mit dem Begriff „Online-Therapie“.

Das ist kein geschützter Begriff, aber wir wollen nicht missverstanden werden. Wir bieten keine Psychotherapie an, das können nur approbierte Therapeuten face-to-face leisten. Für uns arbeiten Psychologen in Ausbildung, die parallel in Kliniken arbeiten. Für die ist das ein guter, flexibler Nebenjob.

Können denn unfertige Therapeuten mit schwerkranken Patienten umgehen?

Wir fragen immer mögliche Suizid-Absichten ab. Wer apathisch wirkt oder bestimmte Schlüsselwörter äußert, wird gleich an Kliniken weitergeleitet. Die Gespräche sollen keine Psychotherapie ersetzen, das ist per Telefon gar nicht zu leisten. Wir geben so eine Rückmeldung zum Online-Programm und motivieren, weiterzumachen. Es ist ein Selbsthilfeprogramm, das nur durch aktive Mitarbeit des Nutzers funktioniert und nachhaltig ist, weil man sich die Strategien selbst aneignet.

Was macht man so in Ihren Programmen?

Man lernt Strategien, die einem helfen, sich besser zu fühlen, zum Teil ganz banale Dinge, die aber viele nicht hinbekommen. Sich mit seinen Stärken befassen! Wer in einer Krise ist, vergisst die positiven Dinge um sich herum.

Sie haben auch ein Programm gegen Burn-Out. Ist das nicht bloß ein Modewort für „Depression“?

Das beobachten wir auch. Viele Nutzer buchen unser Burn-Out-Programm, und dann schieben wir sie im Verlauf in das Depressions-Programm. Burn-Out ist keine diagnostizierte Krankheit, aber es ist eine Sub-Form einer Erschöpfungsdepression.

Sie bieten auch Unternehmen psychologische Unterstützung an.

Es sind schon einige auf uns zugekommen, denn psychische Erkrankungen sind mittlerweile der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit. Das Angebot von Betriebspsychologen wird oft nicht wahrgenommen. Unser Programm ist niederschwellig und anonym. Und die Firma zahlt.

Hätten Sie ein Problem, wenn es auf einmal genug reguläre Therapieplätze für alle gäbe?

Es wird immer einen Bedarf für Online-Therapie geben. Wir behandeln auch Menschen, die normalerweise keine Therapie machen würden. Die schätzen die Flexibilität und brauchen gar keine richtige Gesprächstherapie. Unsere Übungen kann man per App auf dem Weg zur Arbeit machen.

Was haben Sie noch vor mit Selfapy?

Wir wollen das Thema Sucht angehen, aber auch Zwangsstörungen. Schizophrenie würden wir gerne behandeln, auch wenn es schwierig ist. Posttraumatische Belastungsstörungen würden sich dagegen gut online behandeln lassen.

Haben Sie selbst Zwänge und Süchte?

Eigentlich nicht. Ich fühle mich durch meinen Hintergrund sehr gut gewappnet. Ein kleiner Zwang vielleicht: Ich telefoniere noch immer jeden Tag mit meiner Mutter. Da bin ich ganz Mamakind.

Sie wohnen und arbeiten mittlerweile in Berlin. Da sind Sie ja in guter Start-Up-Gesellschaft.

Ich wohne seit vier Jahren in einer Siebener-WG. Alle meine MitbewohnerInnen sind selbständig. Das Berliner Umfeld hat mich schon geprägt: Mach dein Ding, und wenn du fällst, dann fällst du eben – und machst was anderes.

Haben Sie auch das Nachtleben der Hauptstadt für sich entdeckt?

Die Techno-Szene ist nicht so meine. Ich höre vor allem deutschen Schnulzpop, also Philipp Poisel und Co. Meine Freunde meinen, davon würden sie depressiv werden. Aber ich finde das schön.

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