: Ins Herz gehämmert
Christoph Heins berührender Roman „Verwirrnis“ erzählt von grausamer Repression in der ostdeutschen Provinz der fünfziger Jahre, vom schwulen Leben in der DDR und von der Freiheit, die Grenzen der eigenen Befreiung festzulegen
Von Carsten Otte
Wer verstehen möchte, warum Menschen in Krisenmomenten diese oder jene Entscheidung treffen, warum sie lügen, schlagen, morden oder helfen, warum sie Risiken eingehen, um jemand zu decken, oder zum Verräter werden, muss in der Regel in die Kindheit und Jugend zurückschauen und wird sich vielleicht auch mit den Lebenswegen der Eltern und Großeltern befassen müssen. Das ist keine neue, sondern vielmehr eine altbekannte Erkenntnis der Psychologie, die keineswegs überzustrapazieren ist, gibt es doch in jedem Leben immer auch einen mal größeren, mal kleineren Freiheitsrest, in dem weniger soziale Prägung, sondern eigene Maßstäbe gelten. In diesem literarischen Raum lieben und hassen, handeln und erstarren, kämpfen und sterben die Romanfiguren des 1944 im damaligen Niederschlesien geborenen und in einer Kleinstadt bei Leipzig aufgewachsenen Schriftstellers Christoph Hein. Das war schon in seinem ersten, vielstimmigen Roman „Horns Ende“ nachzulesen, in dem gleich fünf Erzähler von ihren Sorgen und Nöten berichten und dabei auch vor Denunziation nicht zurückschrecken.
In kürzeren und längeren Prosawerken bewies der Schriftsteller fortan, nämlich über Jahrzehnte hinweg, seine literarische Kunst, traurig-widerständige Helden zu erfinden, die mit politischen Wirrungen des 20. Jahrhunderts konfrontiert sind und denen sich ihr Schöpfer auf nahezu zärtliche und gleichzeitig distanzierte Weise näherte. Einem breiteren Publikum wurde Heins Erzählweise über die Verfilmung der Romane „Der Tangospieler“ oder „Willenbrock“ bekannt. Zuletzt erschienen der beeindruckende Entwicklungs- und Lehrerroman „Glückskind mit Vater“ und das in vielerlei Hinsicht monumentale Geschichts- und Erinnerungspanorama „Trutz“.
Auch in dem neuen Roman, „Verwirrnis“, stehen die Figuren zeitlebens vor großen Entscheidungen. Sie lehnen sich auf, emanzipieren sich, lassen sich aber keineswegs vorschreiben, wie der Weg zum Glück und auch die Grenzen der eigenen Selbstbefreiung auszusehen haben. Weil Christoph Heins Geschichten nie im luftleeren Raum spielen, sondern sehr detailgetreu und in einem präzise-nüchternen Tonfall von deutschen Verhältnissen handeln, wurde er immer wieder als literarischer „Chronist ohne Botschaft“ bezeichnet, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Christoph Hein ist, um es etwas pathetisch zu formulieren, ein Schriftsteller der Freiheit und der Humanität. So erzählt er, dialektisch, wie seine Texte angelegt sind, grundsätzlich von der Unfreiheit, von den gesellschaftlichen Zwängen und Gemeinheiten, von den Verstößen gegen das Menschliche, ohne aber seinen oft traurigen Helden die Kraft zur Rebellion, also ihre Würde zu nehmen.
Heins poetisches Prinzip, das manchmal als schriftstellerische Begrenztheit fehlgedeutet wird, ist eine radikale Wahrheitssuche durch maximale Erinnerung. Was auf den ersten Blick etwas trocken anmuten mag, ist bei genauer Lektüre immer wieder spannend, erschütternd, traurig, aber auch witzig, ja, sogar unterhaltsam.
In „Verwirrnis“ hat er abermals ein starkes, in der Retrospektive so aktuelles wie lebendiges Erinnerungsbuch vorgelegt. Es erzählt die Geschichte von Friedeward Ringeling, der den Lesern von einem wissenden Erzähler als „kostbares Relikt aus der Welt der Großmütter“ vorgestellt wird, als kauzigen Kerl mit besten Manieren, Frauen gegenüber stets korrekt und immer distanziert. Sein vermeintlich altmodisches Benehmen führt fast zwangsläufig zu vielen Missverständnissen. Aber Ringeling ist der Meinung, ein „Aufgeben gewisser Verhaltensregeln“ führe in die Barbarei, und er hat auch gute Gründe für diese Annahme.
Friedeward wächst in einer erzkatholischen Familie im ostdeutschen Heiligenstadt auf, und obwohl die Kindheit in den 1950er Jahren auch idyllische Momente bereithält, ist sie doch von Zwang und Züchtigung geprägt und in der Jugend schlicht ein Horror. Denn der Vater, ein Gymnasiallehrer, versucht mit kleinstbürgerlicher Disziplin und wahnhafter Strenge sein geschlossenes Weltbild, in dem es eigentlich nur den Katechismus gibt, gegen sämtliche Veränderungen zu verteidigen.
Was die politischen Verhältnisse anbelangt, mag man das vielleicht nachvollziehen, muss der gläubige Mann sich erst gegen die Nazis, dann gegen die Sowjets und die deutschen Stalinisten behaupten. Doch in der Familie wird der Mann zum Tyrannen und unterscheidet sich kaum von seinen Gegnern. Mit einem üblen Folterinstrument, einem Siebenstriemer, prügelt er auf den nackten Hintern seiner beiden Söhne. Mit dem traurigen Ergebnis, dass Friedewards älterer Bruder das Elternhaus früh verlässt, den Kontakt völlig abbricht und eine neue Identität annimmt.
Christoph Hein: „Verwirrnis“. Suhrkamp, Berlin 2018. 303 Seiten, 22 Euro
Friedeward mag diesen Schritt nicht gehen, auch wenn er am meisten unter der Prügelstrafe zu leiden hat. Die Situation eskaliert, als der Vater ihn und Freund Wolfgang zusammen im Bett erwischt. Ein schwuler Sohn? Das darf nicht sein. Diese Widernatürlichkeit muss aus dem Körper des jungen Mannes geschlagen werden. Die Lederriemen des Siebenstriemers klatschen eine Ewigkeit auf die Haut des Sohnes, und nicht einmal ein blutiges Gesäß kann die Raserei des strafenden Vaters stoppen.
Diese Szenen werden von Hein zwar nicht voyeuristisch, aber doch so anschaulich beschrieben, dass es kaum auszuhalten ist. Später versucht sich der Vater zu rechtfertigen, indem er von den Züchtigungsqualen erzählt, die er selbst durchstehen musste und die ihn „stark“ gemacht hätten. Friedeward werde schon noch erkennen, so die regressive Botschaft, dass die Strafe für dessen „Verwirrnis“ nötig gewesen sei. Doch verwirrt und irr tritt hier nur der alte Mann auf, der noch immer glaubt, mit dem Knüppel die richtigen Gefühle in ein Herz zu hämmern.
Friedeward aber bricht mit dem inneren Zwang, der von außen kam. Er distanziert sich vom Elternhaus, beginnt ein Studium und bleibt seinem geliebten Wolfgang, aller Homophobie zum Trotz, jahrelang treu. Allerdings möchte er nie wieder am Pranger stehen, seine Gefühle verteidigen müssen. Also verheimlicht er sein Liebesleben so gut es geht, lässt sich auf eine Scheinehe mit einer lesbischen Frau ein und treibt ansonsten seine akademische Karriere an der Universität Leipzig voran.
Er wird zu einem bei Studenten und Kollegen geachteten und beliebten Hochschullehrer, und in diesem Mittelteil entwickelt sich der Roman zu einem faszinierenden Porträt der DDR, in der neben der staatlichen Kontrolle auch Räume der Freiheit verteidigt werden. Dass die strafrechtliche Verfolgung von homosexuellem Sex unter Erwachsenen im realsozialistischen Osten früher abgeschafft wurde als im keineswegs so liberalen deutschen Weststaat, ist nur eine historische Wahrheit, an die Hein nahezu nebenbei erinnert.
So erzählt der Roman vom Widerstand gegen Parteifunktionäre und bedrohlich tölpelhaften Stasi-Leuten, den Hoffnungen beim Fall der Mauer, und er endet mit der Umwandlung der renommierten und gewiss auch personalintensiven ostdeutschen Universitäten in ein effizientes und anonymes Hochschulsystem, das weniger bilden als vielmehr ausbilden will und in das ein Mann des Geistes wie Friedeward Ringeling nicht zu passen scheint. Was also weder Faschisten noch SED-Betonköpfe geschafft haben, setzen die Marktradikalen durch, nämlich die Auflösung der Uni als Ort der nicht nur akademischen Freiheit.
Schließlich wird der aufrechte Friedeward doch noch an den Pranger gestellt, weil er sich auf einen läppischen Handel mit der alten Obrigkeit eingelassen hatte. Denn die Stasi wusste über ihn und seine Homosexualität selbstverständlich Bescheid, sodass Ringeling, etwa wenn er Auslandsreisen beantragte, auch erpressbar war. Verraten hat der „edle Mensch“ niemanden, eine Erklärung, die einem öffentlichen Outing gleichkäme, kommt für ihn aber auch nicht infrage. So sieht sich Friedeward, der nach dem Ende der großen Liebe zu Wolfgang auch die etwas pragmatischere Beziehung mit einem lebenslustigen und deutlich jüngeren Kellner im Verborgenen halten möchte, zum allerletzten Mal in seinem Leben mit einem politischen und moralischen Rigorismus konfrontiert.
„Verwirrnis“ bietet jenseits der literarischen und historisch-politischen auch eine sehr persönliche Lesart, erinnert Christoph Hein in seinem Roman doch an seinen eigenen Hochschullehrer, den jüdischen und homosexuellen Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der nach dem Zweiten Weltkrieg erst in Leipzig lehrte und dann in den Westen ging. Hein setzt dem außergewöhnlichen Homme de lettre, der auch in kein Raster gepresst werden wollte, ein wirklich anrührendes Denkmal. Aber auch ohne Kenntnis dieser Parallelen erschließt sich der Text.
Wie schon in anderen Romanen überführt Hein auch in seinem neuen Werk sehr elegant, weil kaum bemerkbar, historische Fakten in Fiktion, um dann wiederum unsere Gegenwart zu befragen: Wie groß ist heute die Sehnsucht nach Härte gegenüber Andersdenkenden und Andersfühlenden? Wie gefährdet sind im aktuellen konservativen Rollback hart erkämpfte Errungenschaften wie die Ehe für alle?
Möge man Heins Roman mit dem herrlich altmodischen und hintersinnigen Titel doch bitte massenhaft drucken und vor allem unter jenen Leuten verteilen, die wieder von einer natürlichen Familienordnung bramarbasieren, als gebe es tatsächlich Sünde und sexuelle Verwirrnis, und die deshalb homosexuelle Partnerschaften erneut rechtlich abwerten wollen.
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