Berliner Schallplatte: „Fallen Trees“: Alte Bäume, vergangene Zeit
Klagend, aber irgendwie tröstlich: Dachte Lubomyr Melnyk beim Einspielen seines neuen Albums „Fallen Trees“ an die Herbststürme im Tierpark?
Er war zuletzt nicht mehr sonderlich gesund gewesen. Achtzig, vielleicht neunzig Jahre hatte er da schon gelebt. Hielt sich mit Mühe aufrecht. Aber er stand fest an seinem Platz, harrte aus, als sei er unbeeindruckt von dem, was um ihn herum vor sich ging.
Birken werden nicht so alt, hatte es geheißen. Und bei diesem Baum hatte man seit einer ganzen Weile nicht einmal mehr den Stamm sehen können, bis in die Krone hinauf hatte sich der Efeu mit einem dichten Panzer um ihn gelegt. Im Herbst sah das nach einem finsteren Gebüsch aus, das senkrecht in die Höhe wuchs. Schön war etwas anderes.
Früher war er eine stolze Birke gewesen. Im Sommer hatte das Weiß der Rinde im Sonnenlicht geflimmert, sich wie eine weiße Leinwand mit breiten schwarzen Strichen vom Blau des Himmels abgesetzt. Seine Blüten, die „Kätzchen“ heißen, lange, fast wurmartige Dinger, zerkrümelten und streuten immer in alle Richtungen, legten sich mit ihren flachen Plättchen, die herabfielen, auf alles und alle in der Nähe.
An einem Donnerstag ist er dann gefällt worden. Männer waren gekommen, einer von ihnen stieg an einem Seil bis zur Spitze hinauf, 20 Meter hoch. Stück für Stück trugen sie ihn ab, den Efeu, die Äste und schließlich den auf seine letzten Meter erstaunlich dürr wirkenden Stamm, bis am Ende nur noch der wunde Stumpf knapp aus dem Erdboden ragte. Der Mann, der oben im Baum gesessen hatte, soll hinterher gemeint haben, die oberen beiden Drittel seien schon sehr morsch gewesen. Er war froh, heil wieder heruntergekommen zu sein.
Lubomyr Melnyk: „Fallen Trees“ (Erased Tapes/Indigo), www.erasedtapes.com, erscheint am 7. 12.
Als mich die Nachricht vom Ende des Baums erreichte mit den Bildern, wie er nach und nach verschwand, kam bald auch die Erinnerung an diese Platte. Ein „Requiem For a Fallen Tree“ ist da drauf, mit den unbeirrbar fließenden gebrochenen Akkorden des Klaviers von Lubomyr Melnyk, klagend, aber irgendwie tröstlich.
Ob der Komponist, der das Album „Fallen Trees“ in Berlin einspielte, an die vielen von den Herbststürmen umgewehten Bäume im Tierpark gedacht hatte? Und war sein Requiem für einen ganz bestimmten Baum gedacht, den er lange Zeit gekannt hatte, bevor dieser fiel? Oder dachte er gar an den Baum, der umgehauen worden war, um das Klavier zu bauen, an dem er saß, als er all das komponierte?
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