Stefan Alberti vermisst die praktischen Folgen des neuen Grünen-Booms: Moderner Ablasshandel
Nein, das liege natürlich nicht vorrangig an diesen frischen Gesichtern von Robert Habeck und Annalena Baerbock, ihren Parteivorsitzenden. Eigentlich und fast ausschließlich und überhaupt sei für den jüngsten Grünen-Boom nur verantwortlich, dass ganz, ganz viele Menschen in Berlin und Deutschland im warmen Sommer erkannt hätten, dass die Ozeane voll Plastik sind, dass die Klimakatastrophe tatsächlich droht und nur die Grünen sie davor bewahren könnten. Ungefähr das ist in diesen Tagen von fast jedem führenden Grünen zu hören, den man zu einer Erklärung für das Umfragehoch der Partei drängt.
So ganz frisch sah Habecks Gesicht beim jüngsten Landesparteitag tatsächlich nicht mehr aus – kein Wunder bei seinem Terminplan. Aber die Umfragegewinne der Berliner Grünen von über 50 Prozent seit dem Frühsommer, nämlich von 15 auf 24 Prozent – lediglich in Baden-Württemberg steht die Partei besser da – nur mit Menschen zu erklären, die plötzlich den Klimaschutz entdecken? Die also nun Strom zu sparen versuchen, bewusst Lichter in ungenutzten Räumen ausschalten, auf weniger Plastikverpackung achten müssten und keine Autos und vor allem keine spritfressenden SUVs mehr kaufen?
Komischerweise bleiben sie aber aus, die Klagerufe der Autoindustrie über Absatzeinbrücke jenseits von Dieselfahrzeugen. Jener Industrie also, die sonst schier beim kleinsten Rückgang der Verkaufszahlen aufschreit. Genauso wie keine Aussagen der Energieversorger zu hören sind, man müsse wegen sinkenden Verbrauchs über Arbeitsplatzabbau nachdenken. Und wo ist die Jubelmeldung der Deutschen Bahn über Zehntausende neue Bahncard100-Kunden? Keine einzige Pressemitteilung solcher Art hat im Zuge des Grünen-Booms Schlagzeilen gemacht.
Kurzum: Falls die Entdeckung des Klimawandels und nicht die coole Performance ihres Spitzenduos Habeck/Baerbock Grund des Grünen-Boom ist, ist das losgelöst von praktischem Handeln. Statt weniger Autos biegt gefühlt jede Woche ein neuer SUV um die Ecke – und selbst die taz beleuchtet bislang abends ihr Gebäude weit über Redaktionsschluss hinaus. Und im Supermarkt gehen die Plastikjoghurtbecher weiter gut weg.
Die Grünen in Umfragen gut zu finden hat offenbar etwas vom kirchlichen Ablasszettel früherer Jahrhunderte: nicht wirklich etwas machen müssen, bloß zahlen oder sich im Grünen-Fall per Stimme das Gefühl geben können, irgendwie öko und gut zu sein und auf der Welle mitzuschwimmen, bestenfalls mit dem Ansatz, dass „die in den Parlamenten“ das mal ändern sollen. Was für die Grünen ein Problem sein dürfte: Ohne echte Substanz hält nämlich kein Höhenflug lange an – auf jeden Fall nicht fast drei Jahre bis zur nächsten Abgeordnetenhauswahl 2021.
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