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Naoshima in JapanDie Insel der Kunst

Auf der japanischen Insel Naoshima hat Kunst den Verfall verdrängt. Dort sind Werke von Monet, Andy Warhol und Jackson Pollock ausgestellt.

Der rote, begehbare Kürbis von Yayoi Kusama auf der Insel Naoshima Foto: Stefan Boness/Ipon

Unter pathetischer Musikbegleitung verlässt die blendend weiße Fähre den Hafen von Takamatsu, eine unscheinbare Nachkriegsstadt am japanischen Binnenmeer. Wenn die erhabenen Töne verklingen, kommt die Poesie der Landschaft zu Wort: sanfte, blaue Berge hinter morgendlichen Nebelschleiern, silbriges Wasser, ein blassgrauer Himmel – die subtilen Farben fließen zu einer virtuosen Tuschezeichnung ineinander. Nichts deutet darauf hin, dass die Seto See mit ihren Hunderten von hügeligen Inseln jahrzehntelang als Industriemülldeponie der Nation missbraucht wurde.

Das gilt auch für Naoshima, aber nach der knapp einstündigen Überfahrt setzt dort schon am Kai ein riesiger roter, schwarz betupfter Kürbis von Yayoi Kusama das Signal, dass hier die Kunst den Müll verdrängt hat: Ende des letzten Jahrhunderts begann der Milliardär Soichiro Fukutake, das abgelegene Eiland mit seiner überalterten Bevölkerung, seiner von Raffinerien beschädigten Natur und seinen verwitterten oder gar verwaisten Häusern als Kunstmekka vor dem Untergang zu retten.

Der Verleger gründete die Benesse-Stiftung, die sich an den sokratischen Visionen vom guten und rechten Leben orientiert und den verbliebenen Bürgern von Naoshima eine führende Rolle in der Transformation ihrer moribunden Idylle geben will. Noch sind die frisch asphaltierten Straßen von Honmura, die vor vierhundert Jahren im Einklang mit Wind-und Wasserströmungen in die Erde gezeichnet wurden, beinah leer. Die traditionellen Holzhäuser des engen Dorfes mit ihren geflämmten, rußschwarzen Fassaden wirken introvertiert, und über den Ahnengräbern in den Vorgärten steht die Stille. Im lokalen Supermarkt ist dagegen die Fischtheke von einem Schwarm Seniorinnen umringt, die um die besten Stücke rangeln.

Kadoya ist das erste Haus, das die Ortsansässigen renovierten und 1998 einem Künstler ihrer Wahl übergaben. Tatsuo Miyajima verwandelte das bescheidene Wohnzimmer in ein seichtes „Zeitmeer“, aus dessen dunklem Wasser 125 Zahlenkolonnen in verschiedenen Farben und Rhythmen aufleuchten – wie hastig oder zögernd sie der Unendlichkeit entgegenflickern, wurde jeweils von einem Einwohner Honmuras bestimmt.

Ein paar Straßen weiter hat Hiroshi Senju die Wände der einstigen Residenz der mit dem Salzhandel reich gewordenen Familie Ishibashi mit Variationen seiner berühmten Wasserfälle bemalt – die nahezu abstrakten Bilder darf man nur in gedämpftem Tageslicht betrachten, und im Zwielicht der minimalistischen Räume scheinen die Wassermassen tatsächlich zu fließen.

Lob des Schattens

„Wir sind der Meinung, Schönheit sei nicht in den Objekten selbst zu suchen, sondern im Helldunkel, im Schattenspiel, das sich zwischen den Objekten entfaltet“, schrieb Tanizaki Jun’Ichirō in seiner berühmten Abhandlung „Lob des Schattens“, auf die er seine „japanische Ästhetik“ begründete. Der emotionale und metaphorische Aspekt von Licht und Finsternis ist auf Naoshima omnipräsent.

Kadoya ist das erste Haus, das die Ortsansässigen renovierten und 1998 einem Künstler ihrer Wahl übergaben

In einem schlichten Bau, den der für seine radikale Raumdramaturgie bekannte Architekt Tadao Andō als eine spezielle Camera obscura für James Turrell errichtete, tasten sich die Besucher in tiefster Nachtschwärze an einer Wand entlang, die immer wieder überraschend Haken schlägt – die Orientierung ist bald verloren, und der Raum scheint vor nervöser Spannung zu vibrieren.

Man starrt angestrengt ins Nichts, bis sich das Auge nach einer kleinen Ewigkeit schließlich an das Dunkel gewöhnt und allmählich ein weißes Rechteck an einer Wand aufdämmert – wie eine Leinwand, auf der ein alter, staubiger Film abläuft, nichts als ein Gewimmel mulmiger Grau­partikel: Man sieht der eigenen Wahrnehmung bei der Arbeit zu.

Und dann laufen wir alle, angetrieben von einem elementaren Bedürfnis, mit ausgestreckten Händen dem blassen Licht entgegen, als wollten wir es ertasten. Unwissentlich sind wir in ein leibhaftiges Höhlengleichnis geraten, oder in die Black Box eines psychologischen Experiments, und kehren benommen in den helllichten Tag zurück.

Auch Hiroshi Sugimoto greift mit seiner unter- und überirdischen Installation auf einer Anhöhe inmitten eines Bambushains nach dem Existentiellen: Er renovierte einen verfallenen, von zwei verwitterten Löwenskulpturen flankierten Holzschrein aus der Edo-Zeit und umgab ihn mit einem rechtwinkeligen Feld aus großen, runden, kalkigen Steinen. Das Auge wandert über die unbegehbare, gleißende Fläche und steigt auf einer Treppe aus lupenreinen Glasblöcken wie aufs Eis dem Himmel entgegen.

Vielschichtige Kunsterlebnisse

Für die Besichtigung der in den Hügel gegrabenen Kammer unter dem Schrein wird man für den Fall akuter Beklemmungsgefühle mit einer Taschenlampe ausgerüstet, denn der Weg führt durch einen langen, nur schulterbreiten Tunnel ins Ungewisse – in den Hades. Doch die Himmelsleiter, so stellt sich heraus, reicht mit ihren Stufen aus gefrorenem Licht in die Unterwelt hinab – und verströmt einen matten Hoffnungsstrahl. Doch auf dem Rückweg durch den schmalen Gang leuchtet einem das präzise von Bäumen gerahmte Meer entgegen, und selbst ein ungläubiges Herz klopft wild bei dieser symbolischen Wiedergeburt.

In dem magischen Minimalisten Tadao Andō, dem auf Naoshima auch ein Miniaturmuseum seiner eigenen Baukunst gewidmet ist, erkannte Fukutake von Anbeginn einen idealen Komplizen bei der Inszenierung multisensorischer Kunsterlebnisse, die den Pfad zu einem Kunstwerk ebenso zelebrieren wie die direkte Konfrontation mit ihm.

Von Honmura aus liegt Andōs Chichu Art Museum auf der anderen Seite eines steilen Berges, der sich nur mit einem elektrifizierten Fahrrad bezwingen lässt. Das Chichu ist leicht zu übersehen: Aus Respekt für die betörende Landschaft ist das karge Gebäude aus glattem, hellgrauem Beton – Andōs Signaturmaterial – wie ein Bunker in einem Hügel verborgen. Nur aus der Vogelperspektive weist eine wie zufällig verstreute Ansammlung dreieckiger und rechtwinkliger Öffnungen darauf hin, dass sich Räume unter dem Gras befinden.

Man erreicht sie auf Umwegen: durch einen spitzwinkligen, von zwölf Meter hohen Mauern umringten Innenhof voller Steine, auf scharfkantigen Rampen und Treppen, entlang nackter Wände mit langen, schmalen Sehschlitzen, durch enge Schneisen unter offenem Himmel – mit anderen Worten: Andō leitet uns durch eine gigantische Skulptur, deren labyrinthische Geometrien sich nie ganz erschließen.

James Turrell ist einer von nur drei Künstlern, denen das weitläufige Chichu Museum geweiht ist. Auf frühe Arbeiten, in denen er farbigem Licht die Dichte eines Objektes zu verleihen suchte, folgt ein Raum, dessen tatsächliche Dimensionen in einem optischen Schwebezustand verharren – intuitiv sucht man nach klaren Grenze, und scheitert.

Im Schwebezustand

Umso lieber verliert man sich dann liegend in die Meditation jenes Ausschnitts vom Himmel, den Turrell mit seinem unverglasten Dachfenster freilegte – auch wenn keine Schwalbe durch das scharf umrandete Sichtfeld fliegt und keine Wolke vorüber schwebt, ist der selbstvergessene Blick in den Äther ein Ereignis. Irgendwann, so scheint es, offenbaren sich selbst die Luftmoleküle.

Schönheit ist nicht in den Objekten selbst zu suchen, sondern im Schattenspiel, das sich entfaltet

Auch der Landart-Veteran Walter de Maria hat sich mit Time/Timeless/No Time im tiefsten Innern des Hügels an ein kosmisches Thema gewagt: In seiner an ein Kirchenschiff erinnernden Halle sitzt eine schwarze Granitkugel von mehr als zwei Metern Durchmesser als geballte Gefahr auf einem Treppenabsatz. Am Abend sinkt die Sonne dem ominösen Objekt mit der Aura einer apokalyptischen Antisonne entgegen. In langen Intervallen rüttelt ein leiser Trommelwirbel den hypnotisierten Betrachter in die Gegenwart zurück, sowie der Stock des Zen-Priesters den eingenickten Mönch mit einem knappen Schlag wach schreckt. Oder ist es doch das Grollen der wütenden Erde, das wir da hören?

Obwohl Turrell und de Maria mit ihrer kontemplativen, in ihr Umfeld eingebetteten Kunst das Benesse-Konzept symbiotisch verkörpern, lieferten sie nicht den Anlass für das Chichu Art Museum. Vielmehr initiierte der Ankauf eines monumentalen Wasserlilien-Gemäldes von Monet aus derselben Serie, die zum Teil in der Orangerie in Paris hängt, den Gedanken an einen permanenten, ganz auf die Kunstwerke zugeschnittenen Schauplatz.

Später kamen vier kleinere Werke aus Monets Spätwerk hinzu. Seine minutiöse Wiedergabe situativer Lichtverhältnisse machen ihn zum Seelenverwandten seiner um rund hundert Jahre jüngeren Kollegen aus den USA. Andō bescherte dem stark von Japan beeinflussten Maler dann auch einen andächtigen, von diffusem Tageslicht infiltrierten Raum mit abgerundeten Ecken, ganz wie Monet sie kurz vor seinem Tod selbst für einen Ausstellungsraum seiner Lilien vorgesehen hatte.

Die Stimmung der Natur

Der pixelierte Fußboden aus siebenhunderttausend Würfeln aus Carrara Marmor – so hell, dass von ihm ein feiner Dunst aufzusteigen scheint – und auch die marmornen Bilderrahmen in „Thassos-Weiß“ hätten sicherlich die kühnsten Erwartungen des Impressionisten übertroffen.

Das gilt ebenfalls für den besonderen Gips der Wände, der schon im Samurai-Schloss von Takumatsu verwendet wurde. Und erst recht für den tausend Quadratmeter großen, seinem Paradies in Giverny nachgebildeten Wassergarten, der den Weg zum versteckten Museum säumt – ganz im Sinne der japanischen Tradition, die Natur nicht nur zu zelebrieren, sondern zu inszenieren – und im Zweifelsfalle zu importieren.

Die Empfindsamkeit für die Stimmungen der Natur und die Vorliebe für Tageslicht verleihen den Kunsterfahrungen auf Naoshima eine seltene Sensibilität, man entwickelt eine gewisse Dünnhäutigkeit und Bereitschaft zur Hingabe an den Augenblick, zu der man im MoMA nie und im Metropolitan Museum bestenfalls in der Abteilung für ozeanische Skulpturen oder in anderen dünn besuchten Regionen kommt. Zugleich kreiert das Pensum so vieler sehenswerter Stätten, die allesamt zurecht auf Beschaulichkeit beharren, einen Konflikt. Das beglückende Gefühl, auf einer Insel vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein, kollidiert mit dem Fährenfahrplan, der die Abfahrt am frühen Abend verlangt.

Das Yin und Yang von Erlebnishunger und Erlebnistiefe lässt sich an einem einzigen Tag auf Naoshima nur dann lösen, wenn man sich mit gebührendem Vorlauf in ein Ryokan eingemietet hat, oder besser noch, wenn man einen Raum im Benesse Hausmuseum ergattern konnte. Hier wird dem Grundrezept der Koexistenz von Kunst, Natur und Architektur auch noch das Schlafen, Träumen und Essen hinzugefügt: Zehn Zimmer sind in das von Andō an einer hochgelegenenen Stelle gebaute Museum integriert, dessen Werke – von Künstlern wie Robert Rauschenberg, Christo und Jeanne Claude, Alberto Giacometti und natürlich Yayoi Kusama – den Gästen auch um vier Uhr früh unbeaufsichtigt zugänglich sind: im Sitzen, Liegen oder auch im Dämmerschlaf.

Zumindest für eine Weile sollen sie auf Fukutakes Wunsch das Privileg der Intimität zu Kunst von Weltrang genießen, das sonst ja den wenigsten vorbehalten ist. Hinzu kommt das Vergnügen, in den heißen Wassern des von dem chinesischen Kunststar Cai Guo-Qiang gestalteten Badehauses in Gesellschaft internationaler Kunstliebhaber die „kulturellen Unterschiede wegschmelzen zu lassen“, so die Broschüre.

Die Schwesterinseln

Von Naoshimas beiden Schwesterninseln hat Inujuma am meisten mit seiner industriellen Vergangenheit zu kämpfen. Fast hundert Jahren lebte die inzwischen auf fünfzig Personen mit einem Durchschnittsalter von 75 Jahren geschrumpfte Bevölkerung im Schatten der Überbleibsel einer Kupferraffinerie. Als die Landesregierung dem winzigen Eiland auch noch eine toxische Müllhalde hinzufügen wollte, kaufte Fukutake kurzentschlossen das ohnehin schon missbrauchte Land und heuerte den für seine ökologische Feinfühligkeit bekannten Architekten Hiroshi Sambuichi zur Rehabilitation der Ruine an.

Sein Neubau überragt kaum die direkt am Strand zu einem visuellen Stakkato gestaffelten Mauerreste aus schwarzen Ziegeln, sondern er verschwindet ebenso wie das Chichu Art Museum teilweise im Erdreich. Als ein Akt der Wiedergutmachung an der vergifteten Natur ist das Gebäude eine gänzlich von der Luft, die der einst schwarzen Rauch spuckende Schornstein ansaugt, betriebene Energiemaschine, in deren Mechanik der Künstler Yukinori Yanagi seine auf der Ikarus-Sage basierende Installation ansiedelte.

So fixierte er an jedem Winkel, der den brausenden Wind in dem neunzig Meter langen Kühlungsstollen verlangsamen soll, einen Spiegel, der ein Dachfenster auf eine Weise reflektiert, dass es wie das Licht am Ende des Tunnels erscheint. Doch wie verhext springt der vermeintliche Ausgang abrupt an jeder Ecke in eine andere Richtung. Fröstelnd, verwirrt und beglückt entkommt man schließlich in eine verfallene Fabriklandschaft, die schon zum großen Teil unter Pflanzen begraben ist.

Es bleibt gerade noch Zeit für eine atemlose Fahrradtour zu den Archives du Coeur, einem winzigen, abgelegenen Gebäude in einem Wäldchen direkt am Strand. Es beherbergt die stetig wachsende Sammlung von bisher rund fünfzigtausend Herzschlägen, die Christian Boltanski seit 2008 von Menschen aus aller Welt aufgenommen hat, als ein elementares „Dokument ihrer Existenz“.

In einem dunklen Raum pocht das Herz eines Fremden nach dem anderen, amplifiziert zu einem alarmierenden Dröhnen und begleitet vom hektischen Flickern einer nackten Glühbirne. Gegen eine Gebühr lässt sich der eigene Herzschlag an Ort und Stelle archivieren, und an einem Computer kann man sich aus der Datenbank nach Namen, Nationalität und einem kurzen Statement weitere Herzen aussuchen und ihrem Puls jeweils eine Minute lang per Kopfhörer lauschen – die Stimme eines jeden Herzens ist so individuell wie ein Fingerabdruck, man hört ihr gebannt und ein wenig angstvoll zu, wie einer allzu vertraulichen Botschaft.

Schnell macht einen das virtuelle Stethoskop zum Diagnostiker, der das kleinste Stolpern registriert. Welcher Gedanke, welches Gefühl mag wohl den Aussetzer verursacht haben? Es könnte ein Wassertropfen gewesen sein, ein von Turrell gerahmter Schmetterling, oder der Blick auf das Seto Meer am Ende von Sugimotos Tunnel.

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