: Der schlechte Dichter des Guten
Wiedergelesen (4): Pelle Igels Gedichte waren für die Bühne bestimmt – und erinnern an die Existenz eines Theaters, das seine Funktion als radikal zugängliches Massenmedium in bis heute unerreichter Direktheit wahrnahm
Unsere Serie stellt in loser Folge Texte und literarische Werke vor, die von Norddeutschland handeln oder deren Autor*innen hier gelebt haben oder beides – und auf die aufmerksam zu machen es Gründe gibt.
Erneut lesen wir dafür Bücher, weil jeder meint, sie zu kennen, sie aber doch ganz anders verstanden werden müssten, weil keiner sie kennt, obwohl jeder sie kennen sollte, weil man nicht loskommt von ihnen, weil sie in Vergessenheit geraten sind oder weil sie zu Unrecht Ruhm und Publikum eingeheimst haben.
Von Benno Schirrmeister
Pelle Igels Texte und Gedichte sind nur schwer zu bekommen. Sie zu lesen ist auch kein Genuss: Sie bilden für Liebhaber der Literatur sogar ein echtes Urärgernis, weil in diesem Werk das moralisch Gute, Wahre und die Schönheit so vollständig auseinandertreten, die eine metaphysische Ästhetik so gerne als verschwistert ansähe.
Aber nee, Pelle Igel, 1905 unter dem bürgerlichem Namen Hans-Peter Woile in Trier geboren, hat wirklich grottenschlecht gedichtet. Und doch hat er damit genau für das Gute geschrieben, nicht nur in jenen gut 25 Jahren ab 1919, in denen Bremen sein Lebensmittelpunkt ist. Pelle Igel trifft zuverlässig ins Herz des Konflikts, wenn er in seine holprige Verse seine Klassenkampferfahrungen geradezu mutwillig plump hineinreimt. Etwa, wenn er ironisch losjubelt: „Der Polizei sei Preis und Dank: / die schlägt schon keinen Nazi krank, / doch schlägt bestimmt der Gummiknüppel / den Arbeitsmann zum ganzen Krüppel“ – eine ewige Wahrheit, die Goethe freilich unzugänglich bleiben musste.
„Bei den Nazis nichts Neues“ heißt das Poem und macht zwischendurch den Rückgriff auf Erich Maria Remarques Werk noch etwas expliziter, das „in den Augen der Nazis Quark“ sei. Im Hip-Hop von heute könnten Akzentverlagerungen vom Gummiknüppel zum Krüppel als smarte Offbeats absichtlich aufgesucht die rhythmische Spannung im Sprechgesang steigern.
In der Lyrik von Pelle Igel wirken sie wie Notlösungen, weil diese Dichtung aus einer inneren Not heraus entstanden ist, etwas sagen und durch Reime eingängig machen zu müssen. Sprachtüfteleien scheinen da fehl am Platz. So ist der Malergeselle Woile, als er den Vorsitz der Bremen-Oldenburgischen Sektion des Bundes Proletarischer Schriftsteller innehatte, einmal auf einem sozialistischen Literatur-Event mit dem wichtigen expressionistischen Lyriker Johannes R. Becher aneinandergeraten – einem der vielen Großbürgerkinder, die für sich beanspruchten, den Ton bei den Kommunisten anzugeben: „Becher und seine Freunde waren in unseren Augen Theoretiker“, so hat das Woile später mal erzählt, „und wir verstanden uns als Praktiker und wollten von Qualifizierung und solchen Sachen nichts wissen.“ Becher ist später dann DDR-Kulturminister geworden, Woile Kriegsopferrentenempfänger im Südschwarzwald.
Woile ging’s bei seiner Kunst nicht darum, Klassikerstatus zu erlangen, sondern um Performance, Information und Verständlichkeit: Im Auftrag der Internationalen Arbeiterhilfe hatte er eine Spieltruppe gegründet, also ein Werktätigentheater, das von Papenburg bis Worpswede durch den nordwestdeutschen Raum tingelte. Vorbild sind die Moskauer Sinjaja bluza, also die „blaue Bluse“, ein Ensemble, das gleich nach der Revolution entstanden war – und allein in der Sowjetunion 7.000 Nachahmer fand. Stalin hat derartige Spektakel beendet.
Auch in Norddeutschland gab es etliche Nachahmer, die Nieter in Hamburg, die Blauen Blusen in Bremen – und eben Pelle Igels Truppe, für die seine Gedichte entstanden sind: „Rote Reporter“ hieß sie, und der Name macht klar, dass sie, ganz wie das Original, eine „lebendige Zeitung“ sein wollten. „In der Stadt, auf dem Land, im Betrieb! / Überall wird agitiert, / in der roten Front marschiert“ erläutert ihr Erkennungssong, der vor jedem Programm geschmettert wurde, was darunter zu verstehen war: Eine Poetik der Persuasion, Dichtung als Überzeugungsarbeit.
Für die Revolution, klar. Aber vor allem gegen den anschwellenden Nationalsozialismus. In den wenigen erhaltenen Ruinen seines Werks scheint die mittlerweile eher verdrängte Funktion von Theater als einem in seiner Zugänglichkeit bis heute unerreichten Massenmedium auf, einem Medium, in dem das Ereignis des Tages und dessen politische Deutung in der Öffentlichkeit reflektiert, der Meinungsstreit auf offener Bühne ausgetragen werden kann. Nur ein Boxkampf ist direkter.
Das meiste ist vernichtet. Später, im Schwarzwald, hat Pelle Igel vor allem als Karikaturist gewirkt und gegen die Wiederbewaffnung getextet, was ihm in der Bundesrepublik ein Aufsehen erregendes Verfahren wegen Hochverrats und Staatsgefährdung eintrug.
Aus seiner nordwestdeutschen Frühzeit sind gerade mal 75 Blatt erhalten, die im Berliner Archiv der Akademie der Künste liegen. Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes war Hans-Peter Woile verhaftet worden. Er kam nach ein paar Monaten frei, denn „Woiles Identität mit Igel konnte ihm nicht nachgewiesen werden“, besagt die Legende. Die ist schön.
Eine andere Erklärung scheint der im Bremer Staatsarchiv aufbewahrte „Bericht des KPD-Mitglieds Pitter Woile an die Gestapo Bremen“ zu liefern, indem der „über eine Reise nach Holland und Belgien und Kontaktierung von Emigranten der SPD und KPD“ informiert. Nicht immer ist die Wahrheit ansehnlich.
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