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Keine Zeit für Politik

Nach den Vorfällen in Chemnitz fragen sich viele: Wie erzieht man junge Menschen zu Demokraten? Familienministerin Giffey fordert ein Gesetz zur Demokratieförderung. Die Bundesländer halten davon wenig – obwohl die Lehrpläne wenig Politikunterricht vorsehen

Von Jonas Weyrosta

Sechzig Minuten mussten reichen, um drei Tage Ausnahmezustand in Chemnitz im Unterricht zu besprechen. Jens Weichelt ist Lehrer an einem Gymnasium bei Chemnitz. Er unterrichtet eine zwölfte Klasse in Gemeinschaftskunde. Seine Schülerinnen und Schüler hatten nach den Vorfällen in Chemnitz und den darauf folgenden Demonstrationen viele Fragen. Wie konnte das passieren? Wer waren die Täter? Was geschieht nun? Das ganze Land sprach in diesen Tagen über Chemnitz. Doch glaubt man der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), dann gäbe es an dieser Schule eigentlich gar keine Zeit für solche Diskussionen.

Giffey reiste vergangene Woche nach Chemnitz. Sie führte viele Gespräche und kam zu dem Schluss: „In vielen Schulen und Vereinen wird überhaupt nicht mehr über Politik gesprochen. Die Mittel für die Jugendarbeit wurden in Sachsen jahrelang gekürzt, die Folgen davon sehen wir jetzt“, sagte sie nach ihrem Besuch in Sachsen in einem Interview mit derWelt.Giffeys Vorschlag gegen die aus ihrer Sicht zunehmende Entpolitisierung: ein neues Bundesgesetz zur Demokratieförderung. Genauer wurde die Ministerin bislang nicht. Ihr Haus, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend koordiniert bereits das 120-Millionen-Euro-Programm „Demokratie leben“, darunter fallen auch Projekte der politischen Bildung an Schulen. Am bekanntesten ist die Initiative „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Rund 2.800 Schulen führen bundesweit mit dieser Initiative Projekte durch. 91 Schulen davon befinden sich im Freistaat – etwa 5 Prozent.

Jens Weichelt ist neben seiner Arbeit als Lehrer auch Vorsitzender des sächsischen Lehrerverbandes. Er kennt das Engagement des Bundesfamilienministeriums für mehr Demokratie. Auf kurzfristige Gesetzesvorschläge dieser Art reagiert der sächsische Lehrerverband allerdings allergisch. „Das ist zum jetzigen Zeitpunkt blinder Aktionismus. Zum Demokraten wird man nicht per Gesetz erzogen.“ Die Kritik: Immer wenn es in der Gesellschaft ein Problem gibt, wird sofort auf die Schulen gezeigt. „Schulen sind nicht der Reparaturdienst der Gesellschaft“, sagt Weichelt.

In NRW kann ein Schüler 20 Sekunden pro Woche über Politik reden

Der Gemeinschaftskundeunterricht an sächsischen Gymnasien beginnt bislang erst ab Klasse 9 mit insgesamt vier Wochenstunden für Gemeinschaftskunde/Rechtserziehung/Wirtschaft. Gleiches gilt für die Oberschule. Anders formuliert: Schülerinnen und Schüler in Sachsen haben bis 15 oder 16 Jahre keinen regelmäßigen Politikunterricht. Reichlich spät, um die Demokratie zu erlernen. Doch das einzig anhand der Wochenstunden zu bewerten hält Lehrer Weichelt für falsch. „Politik ist ein Querschnittsthema. Wir behandeln diese Themen auch in anderen Fächern.“

Wie unterschiedlich der Stellenwert politischer Bildung an deutschen Schulen ist, zeigt eine aktuelle Studie der Universität Bielefeld. Das „Ranking Politische Bildung“ vergleicht den Anteil des Politikunterrichts in allen Bundesländern. Die Unterschiede sind gravierend: Etwa zwei Drittel der Bundesländer hält die Klassen 5 und 6 für völlig politikfrei.

In Sachsen, Bayern, Saarland und Thüringen beginnt die politische Bildung in Klasse 9. Nur Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg bieten politische Bildung ab der 5. Klasse an. Gemessen an den Wochenstunden für Politikunterricht führt bei allen Schularten Schleswig-Holstein das Ranking an, dahinter NRW und Hessen. Auf den hinteren Plätzen landen Berlin, Thüringen und Schlusslicht Bayern. Sachsen liegt im hinteren Mittelfeld. Doch auch in jenen Bundesländern, die beim Thema politische Bildung Nachholbedarf haben, stößt der Vorstoß der Bundesministerin Giffey rund um ein mögliches Demokratiefördergesetz auf deutliche Ablehnung.

„Demokratieförderung ist an Sachsens Schulen bereits an mehreren Stellen verankert“, betont ein Sprecher des sächsischen Kultusministeriums auf Nachfrage der taz. Gemeint ist das erst kürzlich beschlossene Leitkonzept „W wie Werte“, das auf mehr Demokratiebildung an sächsischen Schulen setzt. Den Handlungsbedarf streitet in der sächsischen Landesregierung allerdings niemand ab. In Dresden hat man erkannt, dass man die politische Bildung lange verschlafen hat. Deshalb soll ab dem Schuljahr 2019/20 Gemeinschaftskunde an Gymnasien bereits ab der 7. Klasse unterrichtet werden. Dazu sollen Klassen- und Vertrauenslehrer fortgebildet und entlastet werden, damit mehr Zeit für Themen neben dem regulären Unterrichtsstoff ist. Das Fazit aus Sachsen: kein Anlass für ein neues Gesetz.

Baden-Württemberg rea­gier­te als einziges Bundesland öffentlich auf Giffeys Initiative: „Wir bezweifeln, dass ein stärkeres Demokratiebewusstsein qua Gesetz gefördert werden kann. Was es braucht, sind Freiräume in den Bildungsplänen, um politische Themen fächerübergreifend zu thematisieren“, sagt eine Sprecherin des Kultusministeriums. Baden-Württemberg befindet sich im Ranking auf den mittleren Plätzen. Immerhin gibt es hier Gemeinschaftskundeunterricht ab der 5. Klasse, an Gymnasien auch fünf Stunden die Woche. Das umfasst allerdings den Unterricht für Geschichte, Geografie, Wirtschaft und Gemeinschaftskunde.

Andere Bundesländer äußern sich zurückhaltender. Das bayerische Kultusministerium will Genaueres über das Gesetzesvorhaben in Berlin abwarten. Eine Ministeriumssprecherin lässt aber durchblicken, was man in München von dem Vorschlag hält: Aktives politisches Lernen werde bereits durch die Klassensprecherwahl oder die Veranstaltung von Gedenktagen ermöglicht, heißt es. Die Frage ist nur: Reicht das aus, um der zunehmenden Gewaltbereitschaft gegen Lehrer, Mobbing und Ausländerfeindlichkeit an Schulen zu begegnen? Bayern verzeichnet etwa einen Anstieg der Gewalt an Schulen seit 2015 um rund 19 Prozent.

Mahir Gökbudak von der Uni Bielefeld ist Autor des Rankings und stellt fest, dass keine exakte Berechnung der reinen Zeit für politische Bildung möglich sei. Nicht nur heißen die Fächer in jedem Bundesland anders. Auch lässt sich schwer nachvollziehen, inwiefern es anderen Fächern um Politik gehe. „Wir brauchen deshalb mehr obligatorische Lehrzeit nur für politische Bildung“, betont Gökbudak. Für sein Bundesland Nordrhein-Westfalen hat er die exakte Unterrichtszeit exemplarisch geschätzt: „Hier entfallen pro Schulwoche im Unterricht bestenfalls 17 bis 20 Minuten auf politisches Lernen. Jeder Jugendliche hat wöchentlich etwa 20 Sekunden Zeit, um seine politische Position vorzutragen oder zu diskutieren. Das ist fatal.“ Und dabei landet Nordrhein-Westfalen noch auf den vorderen Plätzen des Rankings.

Von Bayern spricht Gökbudak als Beispiel der „Missachtung der politischen Bildung“. So ähnlich formuliert das auch ein Münchner Sozialkundelehrer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte: „Was definitiv fehlt, das ist Zeit für Politik.“ Er erinnere sich noch gut an eine Diskussion mit Schülern im letzten Schuljahr. Es ging um die Rolle des Bundespräsidenten. „Für eine Diskussion darüber, ob dieses Amt vielleicht nicht mehr zeitgemäß ist, blieben uns gerade mal zehn Minuten.“ Der 31-Jährige unterrichtet an einem Gymnasium. Und wie sein Kollege Jens Weichelt aus Sachsen bezweifelt auch er, dass Demokratie per Gesetz funktioniert. Er begrüßt aber, dass der Stellenwert politischer Bildung an Schulen endlich diskutiert werde.

Seine Erfahrung: Im Unterricht bleibt keine Zeit, auf tagesaktuelle Ereignisse wie die Vorfälle in Chemnitz einzugehen. „Wenn man mal eine Stunde vorbereitet hat, ändert man die oft nicht wieder um, nur weil gerade irgendetwas passiert.“ Das sei bedauerlich, aber angesichts der Überlastung der Lehrkräfte oft nicht anders möglich.

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