: In der Gruppe stabiler
ALTENPFLEGE Seit 2009 gibt es in Herdecke eine Tagesbetreuung für Menschen mit Demenz: das „Teekesselchen“. Ein Projekt, von dem sowohl Alte als auch das Personal profitieren
VON ANNETTE BOPP
Wenn Menschen mit Demenz ins Krankenhaus müssen, wirft das meist besondere Probleme auf: Sie kommen unversehens in eine ihnen völlig fremde Umgebung. Sie treffen auf eine Struktur, die sich nicht nach ihren Bedürfnissen richtet, sondern auf Effizienz ausgerichtet ist. Bei Untersuchungen muss es schnell gehen, für Erklärungen bleibt oft keine Zeit. „Für Menschen mit Demenz ist das verstörend, vieles erleben sie als übergriffig und bedrohlich, sie sind aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen und damit überfordert, sich in der oft hektischen und unpersönlichen Umgebung einer Klinik zurechtzufinden“, erklärt Cornelia Plenter, Pflegewissenschaftlerin und Koordinatorin des „Teekesselchens“. Sie begleitet das Vorhaben in Kooperation mit Susanne Angerhausen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Projekts „Blickwechsel Demenz.Regional.“ (www.blickwechseldemenz.de).
Der Name „Teekesselchen“ steht bildhaft für die Ausrichtung des gesamten Projekts: „Wir wollen negative Assoziationen vermeiden“, sagt Plenter. „Der Begriff der Demenz ist mit Angst und Abwehr besetzt, deshalb kam etwa ‚Demenzcafé‘ nicht in Frage. ‚Teekesselchen‘ hat etwas Geselliges, man setzt sich gern zum Tee zusammen. Außerdem gibt es dieses Kinderspiel, wo man Worte mit doppelter Bedeutung erraten muss. Das verweist auf die unterschiedlichen Deutungen der Welt von Menschen mit und ohne Demenz und macht klar, dass ein Dialog möglich ist.“
Ab 11 Uhr morgens steht der mit Anrichte, Kommode und Ohrensessel wohnlich eingerichtete Raum auf der Station 2c bis zu sieben Patienten mit demenziellen Erkrankungen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, zur Verfügung. Eine hauptamtliche Altenpflegerin kümmert sich zusammen mit geschulten ehrenamtlichen MitarbeiterInnen um die Patienten. An dem großen Tisch in der Mitte des Raumes wird gespielt und gebastelt, es werden Bilder und Bücher angeschaut, Geschichten erzählt, gelesen, gesungen und gelegentlich auch Gedichte rezitiert. Es wird gescherzt und gelacht, aber auch mal geschimpft und gestritten. Das ganze bunte Leben. Und genau das, was Menschen mit Demenz brauchen.
Ohne solche anregende Beschäftigung verkümmerten ihre ohnehin eingeschränkten Fähigkeiten während eines stationären Klinikaufenthalten nur noch weiter: „Viele bleiben apathisch im Bett und schauen den ganzen Tag an die Decke, weil sie von der fremden Umgebung total eingeschüchtert und verängstigt sind“, weiß Plenter. „In der Nacht können sie dann oft nicht schlafen, weil sie tagsüber nicht aktiv waren. Das kann dann der Nachtschwester das Leben schwermachen.“ „Teekesselchen“ ist deshalb eine Win-win-Situation: Die Patienten werden mobilisiert und in ihren Ressourcen gestärkt, sie erleben Zuwendung, Fürsorge und Respekt. Ärzte und Pflegende werden entlastet, weil die Patienten zufriedener sind und sowohl tagsüber wie nachts für die Station eine geringere Belastung darstellen.
Wie sich das auf die Menschen mit Demenz auswirkt, zeigt auch die wissenschaftliche Evaluation durch das Institut für Pflegewissenschaft an der Uni Bielefeld, deren Ergebnisse jetzt vorliegen: „Die Patienten sind stabiler, sie fühlen sich besser aufgehoben, sie können eher Vertrauen fassen in einer Situation, die ansonsten für sie unverständlich und befremdlich ist“, sagt Plenter. „Sie erkennen den Raum und die Menschen aus der Tagesbetreuung wieder, der Tag-Nacht-Rhythmus wird stabilisiert, die Nächte sind ruhiger, sie sind besser ernährt, weil sie in Gemeinschaft essen und trinken. Sie bewegen sich mehr und haben Kontakt mit anderen Menschen. All das führt dazu, dass sich ihr Allgemeinzustand stabilisiert – ganz im Gegensatz zu anderen Kliniken, wo sich ihr physischer und kognitiver Zustand nach einem Krankenhausaufenthalt deutlich verschlechtert.“ Das bestätigen auch Angehörige: „Die Tagesbetreuung hat erheblich dazu beigetragen, dass meine Mutter den Klinikaufenthalt so gut überstanden hat“, freut sich die Tochter einer im „Teekesselchen“ betreuten Patientin.
Noch ist das „Teekesselchen“ eines von wenigen Projekten, die sich um eine sensible Versorgung von Menschen mit Demenz im Krankenhaus bemühen. „Die positiven Erfahrungen mit dem ‚Teekesselchen‘ am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke zeigen, dass eine bessere Versorgung dieser Patienten machbar ist“, resümiert Projektleiterin Angerhausen.
■ Dieser Artikel entstammt der Zeitschrift medizin individuell (www.medizin-individuell.de). Wir danken für die Nachdruckgenehmigung
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