: Wo bleibt die Freizeit?
In Hamburg hat Schulsenator Ties Rabe zum Schulstart mehr Hausaufgaben gefordert. Ganztagsschulen wie die Schule Traberweg haben sie bewusst abgeschafft, um Kinder und Elternhäuser nicht zu belasten
Von Kaija Kutter
Sie hat das Interview mit dem Senator im Fernsehen verfolgt. „Ich hab’gehofft, dass das keiner hört“, sagt Anja Kusserow. Doch nun hat sie schon ein Elternteil angesprochen, was denn mit den Hausaufgaben wäre. Ein Reizwort.
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) hatte zum Schulstart in Print, Funk und Fernsehen gefordert, dass Lehrer mehr Hausaufgaben geben sollen. Was teils wütende Reaktionen bei Eltern von Ganztagsschülern hervorrief. Denn schon heute sitzen auch Ganztagsschüler bis zum Schlafengehen an den Aufgaben. „Der Schulsenator nimmt Hamburgs Schülerinnen die Freizeit“, skandierte Maik Findeisen, Vater eines Zehntklässlers. Doch es geht im Grunde um die kleinen Kinder und um die Frage, was kindgerecht ist.
Kusserow ist Erzieherin an der Ganztagsgrundschule Traberweg. Als die Schule im Nordosten Hamburgs vor sechs Jahren Ganztagsschule wurde, gab es für die Kinder ein enges Zeitkorsett: Bis 13 Uhr waren die Kinder bei den Lehrern in der Klasse, dann wurde in drei Schichten gegessen. Ab 14 Uhr waren 23 Kinder bei Erzieherin Anja Kusserow im Klassenraum zur „Hausaufgabenzeit“. Erst ab 14.30 Uhr durften die Kinder raus und spielen. „Und um 15 Uhr wurden die ersten schon abgeholt“, erzählt Kusserow. Um 16 Uhr die nächsten. „Der Nachmittag war so zerstückelt.“
Und es lief nicht gut in der Hausaufgabenzeit. „Die schnellen Kinder hatten ruck, zuck ihr Arbeitsblatt fertig. Dann bekamen sie Zusatzblätter. Dann Ausmalbilder.“ Die Kinder hätten draußen spielen wollen, doch sie war verpflichtet, sie in der Klasse zu halten. „Und die langsamen Kinder, die guckten in der Gegend rum. Fummelten an ihrem Bleistift. Wenn sie sagten ,Ich weiß nicht wie es geht', mussten sie warten, bis sie an die Reihe kommen. Und wurden die Kinder nicht fertig, mussten die Eltern das mit ihnen zu Hause machen.“
Seit etwa vier Jahren sind Hausaufgaben am Traberweg abgeschafft. Es gibt auch nicht mehr die Pflicht, dass die Kinder am Nachmittag in ihrem Klassenraum bleiben. „Ohne Hausaufgaben waren die Kinder wie ausgewechselt“, sagt Kusserow. „Sie haben Höhlen gebaut und Rollenspiele gespielt.“
Die Schule Traberweg ist ein Neubau aus den 1990ern, ein lichtes Gebäude mit grünen Pflanzen und fröhlichen Farben. Der Raum ist hier Pädagoge, die Kinder wirken entspannt, die Atmosphäre erinnert ein bisschen an Bullerbü. Das Zentrum ist ein Innenhof, der zugleich Aula ist.
Zwei Mädchen spielen auf dem Hof. „Wohin willst du?“, begrüßen sie den Gast. „Wisst ihr, wo der Schulleiter ist?“ – „Komm mit, wir bringen dich hin“. Handwerker zimmern an Lernhäuschen, neue Rückzugsorte für die Kinder. Vor dem Eingang steht eine Erzieherin an einem kleinen Stehpult, der „Rezeption“, an der eingetragen wird, wenn ein Kind abgeholt wird.
Der Direktor führt seinen Besuch erst mal in die Mensa. Es gibt heute Kartoffeln, Wurzelgemüse und Hühnerkeule. Die Kinder rücken, machen Platz am Tisch. Ein Mädchen versucht die Keule mit Messer und Gabel zu essen, rutsch ab, nimmt das Ding in die Hand. Nicht leicht.
Später werden an diesen Tischen Trauben von Jungs Monopoly spielen. Papiergeld wechseln. Kopfrechnen. „Gib mir ’nen Zwanziger“, sagt ein Junge zu seinem Freund, der 14 Mark Miete zahlen muss, und gibt ihm sechs Einer zurück. Informelles Lernen. „Einer der Zweitklässler wollte gerade von mir wissen, wie viel acht mal 25 ist“, sagt ein junger Erzieher.
Zurück im Büro erklärt Schulleiter Jörg Behnken die Hintergründe. „Wir müssen gucken, was braucht ein Grundschüler am Nachmittag?“, sagt er. „Die Kinder haben heute nur noch zwei Lebenswelten: Schule und Zuhause.“ Man brauche offene Lernangebote, die auch die außerschulischen Kompetenzen der Kinder im Blick haben. Am Nachmittag müssen die Kinder auch mal zum Rodelberg oder Schlittschuhlaufen. Das geht nicht in der zerstückelten Zeit. Und am wichtigsten ist ihnen, das ergab eine Umfrage, mit Freunden zu spielen.
Erzieherteam und Lehrerkollegium der Schule Traberweg haben schon 2014 ein neues Konzept entwickelt, das jetzt unter Nachbarschulen mehr und mehr Anhänger gewinnt. „Hausaufgaben geben wir an einer Ganztagsschule nicht mehr auf. Denn an unserer Schule ist das Lernen ab 16 Uhr beendet. Sie können am Abend einfach Mama und Papa sein“, steht in einer Powerpoint-Präsentation für die Eltern. Nur in Klasse vier gibt es weiter täglich „verbindliche Aufgaben aus dem Vormittag“, zur Vorbereitung auf die weiterführende Schule.
Für die Jüngeren gibt es am Nachmittag das, was Behnken „intelligentes Üben“ nennt. Im Treppenhaus kommt uns ein kleiner Junge mit Arbeitsheft entgegen und fragt, ob es schon zwei Uhr ist. Er kommt aus der „Lernunterstützung“, die die Lehrer nach 13 Uhr für Kinder anbieten, die Aufgaben vom Vormittag noch beenden müssen oder „noch etwas Futter brauchen“, wie Behnken sagt. Für Kinder, die früher vom Sitzenbleiben bedroht wären, gibt es auch gezielte Förderstunden im Lesen, Schreiben, Rechnen. Und für Leistungsstarke gibt es „Profikurse“ wie etwa Schülerzeitung. Um Kinder mit Lernschwierigkeiten kümmert sich eine Lerntherapeutin.
Ist all das genug, um den SPD-Schulsenator Ties Rabe zu besänftigen, der in seinem neu mit dunklen Möbeln eingerichteten Büro im 16. Stock der Hamburger Straße einen anderen Blick auf die Dinge hat? Die FDP hat wegen des Traberwegs schon zwei Anfragen gestellt. Das spornt Rabe an, das Feld der konservativen Schulpolitik will er nicht der Opposition lassen. Er ist von Beruf Gymnasiallehrer und zeigt das auch. Er forderte, Lehrer sollten mehr Hausaufgaben geben, er wundere sich, warum die „aus der Mode gekommen“ wären. Nach dem Hinweis, dass Hamburg doch fast nur Ganztagsschulen hat, korrigiert Rabe sich. Er spricht nun von „Schulaufgaben“ von mindestens 20 Minuten für Grundschüler am Tag und 30 Minuten für ältere. Es reiche nicht zu sagen „Heute spielen wir Kaufmannsladen“, sagt er.
Müssen die Kinder also wieder bei ihren Erziehern im Klassenraum sitzen? Und wenn sie es nicht schaffen, nicht fertig werden, müssen die von Beruf auch müden Eltern am Abend mit den Kindern büffeln?
Anja Kusserow befürchtet, dass der Senator Druck aufbaut und die Eltern wieder verunsichert, sodass sie von sich aus nach Hausaufgaben verlangen. Möglicherweise verpflichtet sogar demnächst eine Richtlinie dazu. Gerade Kaufmannsladen, den es als Spielmöbel nur in der Vorschule gibt, hätten die Kinder gern gespielt, in der Mathewerkstatt Materialien zweckentfremdet und Preise errechnet. „Manchmal sind ihre Äpfel sehr teuer“, sagt Kusserow.
Die Kinder spielten auch gern einfach Schule, oder das Taschengeld-Spiel, oder Skippo, „11er raus“ und Rummi-Cup. „Das Lernen passiert unauffällig, die merken gar nicht, was sie da tun.“
Der Traberweg ist zwar Pionier, aber kein Einzelfall. Insgesamt hat Hamburg 126 Ganztagsschulen mit Nachmittagsbetreuung. „Der Schulsenator darf alternative Lernformate zu Hausaufgaben nicht ausbremsen“, warnt Kristin Alheit, bis vor Kurzem Sozialministerin in Kiel und neuerdings Geschäftsführerin des Paritätischen Landesverbands Hamburg. „Mit der klassischen Zeitaufteilung ist niemand zufrieden. Das ist für die Kinder nicht sinnvoll“, sagt Manja Scheibner, Referentin für Ganztagspädagogik bei Alheits Verband.
Deswegen sind einige Schulen dabei, andere Formen zu entwickeln. Eine Schule in Hamburg-Eidelstedt zum Beispiel hat „Trainingszeit“ von zwei mal 60 Minuten die Woche, in der Kinder selbst entscheiden, was sie üben wollen. Denn Hausaufgaben im alten Sinn sollten „Zuhause mit einer Bezugsperson erledigt werden“, heißt es im Konzept. Die Hausaufgaben in der Klassensituation setze die Kinder „in besonderem Maß unter Druck“. Die einen wollten schnell fertig werden. „Andere empfinden das als Wettbewerb und fühlten sich unterlegen. Die Kinder, denen es am Vormittag schwer fällt zu lernen, kommen auch mit den Hausaufgaben nachmittags nicht gut klar.“
Schulsentor Rabe sagt, ihn treibe die Sorge um, dass jene Kinder, die aus sogenannten bildungsfernen Familien stammten, zu wenig lernten, wenn formale Übungszeit außerhalb des Unterrichts ganz wegfalle. Mit Daten aus den lokalen Schultests unterfüttern kann er diese Sorge noch nicht.
Was nützen überhaupt Hausaufgaben? „Um diese Frage zu beantworten, muss man nach den Zielen fragen“, sagt Ulrich Trautwein von der Universität Tübingen, einer der führenden Hausaufgabenforscher, der zu denen gehört, die vor den Risiken warnen.
Ein erstes Ziel, sagt Trautwein, sei „Leistungssteigerung“. In der Mehrzahl der Studien gebe es positive Effekte, bei Schülern, die ihre Hausaufgaben ordentlich erledigten. Doch es gebe halt auch Schüler, die sehr lange vor den Hausaufgaben sitzen und an ihnen verzweifeln. „Diese Schüler sind doppelt bestraft: Hausaufgaben kosten sie viel Zeit, ohne dass sie einen großen Gewinn davon haben.“
Ein zweites Ziel sei, dass Schüler lernen sollen, sich selbst zu regulieren. Die Datenlage hierzu sei nicht sehr gut, sagt der Bildungswissenschaftler. „Allerdings besteht die reale Gefahr, dass Hausaufgaben im Gegenteil Interesse abtöten und demotivieren.“ Das dritte Ziel von Hausaufgaben sei, „eine Brücke zum Elternhaus“ zu bauen.
Aus der Powerpoint-Präsentation für die Eltern der Ganztagsschule Traberweg
Doch Hausaufgaben führten in Familien sehr häufig zum Streit. „Sie sind eine Brücke des Unfriedens“, sagt Trautwein. „Wenn Schule Kontakt zu den Eltern haben will, sollte sie erfreuliche Brücken bauen.“ Und wenn Eltern zu Hause bei den Hausaufgaben helfen, gebe es in der Summe einen „Null-Effekt“, weil die Unterstützung ebenso vielen Schüler hilft wie sie schadet. „Es gibt Eltern, die mit hohem Zeitaufwand genau das Gegenteil erreichen.“
Ganztagsschulen böten eine wunderbare Chance, bräuchten aber auch „Settings“, in denen Schüler selbstständig lernen. „Dies wird insgesamt zu wenig diskutiert“, sagt Trautwein. „Hamburg ist ein Bundesland, das sich mit den Chancen von Ganztagsschule intensiv auseinandergesetzt hat, aber auch die Herausforderungen kennt.“ Selbstständige Lernzeiten mit „Logbüchern“ könnten helfen, klappten aber nicht automatisch.
In Ganztagesschulen mit Nachmittagsbetreuung wie der Schule Traberweg müssen Erzieher und Lehrer gleichberechtigt zusammenarbeiten, anderes geht es nicht. Es ist ein politisches Projekt, auch ein Kompromiss, ohne den der rasante Ausbau der Ganztagesschulen in Hamburg gar nicht möglich gewesen wäre.
Schulleiter Behnken sieht sein Modell nicht im Widerspruch zu den Aussagen des Senators. Schulleitung und die Leitung der Nachmittagsbetreuung wollen nun eine Stellungnahme dazu erarbeiten. Das Thema „Verbindliches Üben in der Schule“ solle Schulentwicklungsthema werden, teilt er seinem Kollegium mit. Die Eltern, sagt er, müssen sich keine Sorgen machen, dass ihr Kind zu wenig übt.
Und in der Tat, von einem Leistungsabfall ist nichts zu spüren. Die Drittklässler lesen besser als Kinder von Schulen mit gleicher sozialer Zusammensetzung. Das hat der jüngste Hamburger Vergleichtstest „Kermit“ ergeben. Auch die Leistungsschwachen haben sich gut entwickelt. Nur zwei Prozent sind in der untersten Kompetenzstufe, bei den Vergleichsstufen sind es 18 Prozent. Sogar in Mathe ist das Ergebnis überragend, das Kaufmannsladenspielen also so nutzlos nicht.
Hinzu kommt: Auch wenn die Schule keine Hausaufgaben gibt, baut sie die Eltern ein. „Sie sind für die Kinder sehr wichtige Lernbegleiter“, heißt es in der Präsentation. „Es gab früher viele Negativkonflikte mit nicht erledigten Hausaufgaben“, erinnert Rektor Behnken. Doch er fragt, ob Eltern nicht ein Recht hätten zu sagen, dass das Lernen an einer Ganztagsschule nach der Schulzeit beendet ist. „Die Eltern sind meist beide berufstätig oder arbeiten im Schichtdienst“. Er möchte die Eltern so „abholen“, dass sie Lernbegleiter für ihre Kinder sind, indem sie individuelle Aufgaben bekommen und sich die Zeit selbst einteilen können.
Am Traberweg dürfen Lehrer zwar nicht mehr von einem Tag auf den anderen Aufgaben aufgeben, aber die Schule ermuntert die Eltern: „Sie dürften natürlich mit den Kindern lernen und selber entscheiden, wann und wie viel zu Hause geübt und gelernt wird.“
„Die Eltern bekommen jeden Freitag eine Mail, damit sie im Blick haben, was dran ist und was fertig sein muss“, berichtet Anja Kusserow. Habe ein Kind große Lücken, gebe es eine Extra-Mail. Sie selbst habe drei Kinder durch die Schule gebracht und finde diese Wochenendlösung sehr praktisch. Denn so bekämen die Lehrer auch keinen falschen Eindruck, weil die Eltern die Aufgaben korrigieren. „Ob man nun jeden Tag den Staub wischt oder es nur am Wochenende tut. Das Ergebnis ist doch dasselbe“, sagt sie. „Der Staub ist weg.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen