piwik no script img

Unter bunter Flagge

Zehntausende gingen bei der Pride Parade in Jerusalem auf die Straße, um für LGBT-Rechte und gegen Diskriminierung zu demonstrieren – vor allem gegen das neue Leihmuttergesetz, das Schwule explizit ausschließt. Trotz Gegendemonstrationen blieb es friedlich

Geschätzte 35.000 Menschen bewegten sich durch Jerusalem, an einigen Orten trafen sie auf aggressive Gegenproteste von rechts Foto: A. Awad/reuters

Von Thomas Abeltshauser

Alona Retro ist selbst in diesem Meer aus Regenbogenfahnen und Transparenten nicht zu übersehen. Der zierliche junge Mann steht in einem mit bunten Früchten bedruckten Sommerkleid auf Jerusalems King David Street, die langen Haare kunstvoll auftoupiert, in seinem androgynen Gesicht einzelne Bartstoppeln. Eine feenhafte Erscheinung, die in ihrer Genderfluidität so gar nicht in die Heilige Stadt zu passen scheint. Er selbst bezeichnet sich als Transvestit. Um ihn herum sind an diesem Donnerstagnachmittag Zehntausende auf der Straße, um auf dem „Jerusalem March for Pride and Tolerance“, wie die CSD-Parade hier offiziell heißt, für LGBT-Rechte und gegen Diskriminierung zu demonstrieren. 35.000 schätzen am Ende die Veranstalter, Alona ist begeistert.

Für Yair Hochner, Leiter des Tel Aviv LGBT Filmfestivals, ist „Jerusalem die wichtigste Pride Parade Israels. Die in Tel Aviv ist größer, aber es ist eine einzige große Party. In Jerusalem ist die Demonstration politischer Protest.“ Von dem freilich bekommen die Bewohner nur mittelbar über die Medien etwas mit. Die gesamte Route ist eingezäunt, Zugang gibt es lediglich über eine Sicherheitsschleuse am Liberty Bell Park. Jede Tasche wird gefilzt, neben Hunderten Soldaten und Polizisten in Uniform soll es auch zahlreiche Zivilbeamte geben, die Attentate verhindern sollen. Verschärft wurden die Sicherheitsmaßnahmen, nachdem 2015 ein Ultraorthodoxer bei einem Messerangriff die 16-jährige Shira Banki ermordete und sechs weitere Menschen schwer verletzte. Auf der Strecke wird am Tatort mit einem großen Foto Bankis gedacht, viele legen Blumen nieder.

Es bleibt friedlich, die Gegenproteste werden auf Abstand gehalten, doch auch von Passanten ist kaum etwas zu sehen, selbst Fenster und Balkone bleiben meist verschlossen. Streckenweise wirkt die Parade wie ein Marsch durch eine Geisterstadt. Dennoch ist es ein Erfolg, der größte Pride March in der inzwischen 17-jährigen Geschichte. Das hat auch mit der derzeitigen Stimmung in der LGBT-Community und großen Teilen der Gesellschaft zu tun, nachdem die Knesset am 18. Juli kurz vor der Sommerpause eine Gesetzesreform verabschiedet hat, die schwule Männer rechtlich davon ausschließt, eine Leihmutter zu engagieren. Nicht nur die LGBT-Community geht seitdem auf die Barrikaden, auch eine große Mehrheit der Bevölkerung hat sich in einer aktuellen Umfrage gegen das Gesetz ausgesprochen.

Im Liberty Bell Park reihen sich zahlreiche Stände unterschiedlicher Organisationen und Verbände aneinander, das Jerusalem Open House, LGBT-Zentrum der Stadt und Veranstalter der Pride, präsentiert sich hier ebenso wie ein schwuler Fußballclub und liberal-religiöse LGBT-Gruppen. Auf T-Shirts steht in hebräischen Buchstaben „gleich“, manche tragen eine Kippa in Regenbogenfarben. Zwei Väter schieben ihren mit Fähnchen bestückten Kinderwagen durch die Menge. Viele haben Plakate dabei, auf denen „Love Is Love“ steht oder das bekannte Bibelzitat aus dem Buch Levitikus, „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Als sich der Zug von hier aus in Bewegung setzt, laufen auch paar Dragqueens mit, aber keine halbnackten Muskeltypen und Lederkerle, wie sonst bei CSDs oft üblich. Auch Technotrucks und Alkoholausschank gibt es nicht, dafür Sprechchöre, Transparente, Trommlergruppen und eine Brassband.

Es ist das bunte, das andere Jerusalem, das sich hier heute versammelt und gegen die alltägliche Diskriminierung protestiert. Vor allem aber ist es ein selbstbewusstes Aufstehen gegen religiösen Fanatismus und die rechte Politik der Regierung. Auch wenn keine hundert Meter weiter Rechtsextreme und Ultraorthodoxe aggressiv gegen „Abscheulichkeit“ und „Sünde“ protestieren.

Wirtschaftlichen Druck aufbauen

Doch es gibt auch kleine Hoffnungsschimmer: Oppositionsführerin Tzipi Livni und andere linke Politiker nehmen an der Demonstration teil, eine Gruppe moderner Orthodoxer wirbt dafür, dass sich Homosexualität und orthodoxe Identität nicht ausschließen. Und am Tag der Parade veröffentlichten knapp 90 Rabbiner einen offenen Brief, in dem sie erstmals klar Stellung beziehen und sich für eine inklusivere Gesellschaft einsetzen.

Seit dem Gesetzesbeschluss hat es immer wieder Proteste gegeben, allein zum Tel Aviv Pride vor zwei Wochen kamen über 80.000 Menschen, es fanden auch Straßenblockaden und kleinere Demonstrationen in anderen Städten statt. Zahlreiche Konzerne solidarisierten sich und unterstützen ihre Mitarbeiter, am Streik teilzunehmen. „Wir müssen auch wirtschaftlich Druck aufbauen“, sagt Yair, „das beeindruckt Netanjahu mehr als eine Parade.“

Für ihn ist das Surrogatgesetz aber gar nicht das Wichtigste. „Homosexuelle Paare sollen natürlich heiraten und Kinder haben dürfen, aber Diskriminierung gibt es auf allen Ebenen und gegen alle Minderheiten. Das müssen wir bekämpfen.“ Zu den weiteren Forderungen der LGBT-Gruppen gehören unter anderem das Verbot der Konversionstherapie, bei der Homosexuelle „geheilt“ werden sollen, härtere Strafen bei Hassverbrechen und bessere Unterstützung für queere Jugendliche und Transsexuelle.

Der Pride March kann da nur ein Anfang sein, aber in Alona Retros und Yair Hochners Auffassung ist er ein hoffnungsvoller. Gil, der nach dem Studium in Jerusalem vor ein paar Jahren nach Tel Aviv gezogen ist, spürt dagegen eine gewisse Resignation. „Der Protest hätte viel früher beginnen müssen, bevor das Gesetz erlassen wurde. Jetzt wird es sehr schwierig, einen neuen Entwurf in die Wege zu leiten.“ Vor dem Ende der Sommerpause Ende September wird jedenfalls nichts passieren.

Sie fordern auch das Verbot der Konversions-therapie, die Homosexuelle „heilen“ soll

Gil ist wie viele andere aus Tel Aviv zur Demo angereist, weil Jerusalem als Regierungssitz eine besondere Bedeutung hat, aber auch aus Solidarität mit seinem früheren Wohnort. Er vermisst die Intimität und das Familiäre der Jerusalemer Szene, wo sich die unterschiedlichsten Leute begegnen. „Tel Aviv ist sehr viel ausdifferenzierter, jeder bleibt in seiner Bubble, dadurch ist es homogener und glatter.“

Auch Alona Retro sieht das so: „Unter der Oberfläche gibt es eine Realität, die sehr wohl Widersprüche aushält. Jerusalem ist ein sehr exzentrischer Ort und das gefällt mir. Hier ist jeder auf seine Art merkwürdig, hier muss ich keiner liberalen Norm entsprechen, kann ich Freak sein.“

Inzwischen sind die meisten am Independence Park im Stadtzentrum angekommen, wo die Abschlusskundgebung stattfindet. Am meisten beeindruckt dabei die kämpferische Rede Nina Halevys, einer israel­weit bekannten Transfrau, die 45 Jahre als Mann lebte, bevor sie sich zur Geschlechtsangleichung entschloss und heute weiter mit ihrer Ehefrau und der gemeinsamen Tochter lebt und eine erfolgreiche Bäckereikette betreibt. Eine Biografie, die hier vielen Mut macht.

Gaybar platzt aus allen Nähten

Nach dem Auftritt von Dana International, der transsexuellen Gewinnerin des Eurovision Song Contest („Diva“), die entsprechend gefeiert wird, leert sich gegen 21.30 Uhr der Park. Bei der anschließenden Party im Videopub, der einzig verbliebenen Gaybar Jerusalems, kaum größer als eine Zweiraumwohnung mit Balkon, platzt der Laden aus allen Nähten. Zu Israel-Pop tanzen arabische Jungs in High Heels ausgelassen neben traditionell gekleideten Orthodoxen und säkularen Kerlen mit freiem Oberkörper. Hier, auf engstem Raum, sind Gleichberechtigung und friedliche ­Koexistenz keine Utopie, sondern werden Nacht für Nacht zelebriert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen