: Mini-Olympia im Test
Glasgow und Berlin, Berlin und Glasgow: sechs Sommersportarten finden erstmals in voller Breite als fernsehfreundliches EM-Gesamtpaket zusammen
Aus Köln und Glasgow Andreas Morbach
Im Juni war Philip Heintz mal wieder für drei Wochen in der Sierra Nevada, im Höhentrainingslager mit seiner Heidelberger Trainingsgruppe. Neben den täglichen Einheiten mit den vertrauten Schwimmkollegen machte der 27-Jährige im Süden Spaniens Bekanntschaft mit drei der vier deutschen Bahnradfahrer, die wie er seit heute und bis Ende nächster Woche in Glasgow ihre EM austragen. Ebenso wie die Ruderer, Turner, Golfer und Triathleten. Sechs olympische Sommersportarten zur selben Zeit am selben Ort aus demselben Grund – das ist eine Premiere, die Heintz spätestens seit dem luftigen Treffen mit den Radlern steil begrüßt.
„Ich find das ziemlich cool – im Prinzip sind das ja Olympische Spiele im Miniaturformat. Ich bin ein voller Fan davon“, schwärmt der Olympia-Sechste von Rio über 200 Meter Lagen im Gespräch mit der taz von den elf Wettkampftagen in Schottland – noch ehe dort der erste Startschuss ertönt ist. Heintz denkt sogar schon an eine Ausweitung des neuen Konzepts auf Weltmeisterschaften – und aktuell an seine neuen Freunde mit den Velos: „Wenn ich dann Zeit habe, schaue ich auf jeden Fall bei ihnen vorbei und feuere sie an.“ Sagt’s und fügt schmunzelnd hinzu: „Wenn man das beim Bahnradfahren macht.“
Wie vor jeder Premiere sind alle Beteiligten natürlich besonders gespannt, wie es beim ersten Mal läuft. Dem Zuschauer, nicht zuletzt dem vor dem Fernsehgerät, komprimiert mehrere Sportarten anzubieten – das gab es auch schon bei den European Games 2015 in Baku und den World Games im vergangenen Jahr in Breslau. „Insofern sind die European Championships damit vergleichbar“, erklärt Dirk Schimmelpfennig. Der Leistungssportdirektor im DSOB betont aber auch: „Ihr Charakter ist ein anderer – weil das Ganze eben nicht an einem Ort mit einem gemeinsamen Sportlerdorf stattfindet.“
Dieser Aspekt hat für den früheren Tischtennis-Bundestrainer einen speziellen Reiz – schließlich ist Deutschland grundsätzlich daran interessiert, sportliche Großveranstaltungen zu präsentieren. Mit der Leichtathletik-EM in Berlin, die parallel zu dem Multi-Event in Glasgow am 7. August startet, ist man diesmal bereits beteiligt. „Bewähren sich die European Championships, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass unsere Spitzenverbände auf die Idee kommen, dass diese Veranstaltung 2022 oder später wieder etwas für Deutschland sein könnte“, sagt Schimmelpfennig und nennt das entscheidende Plus des Formats, an dem in den beiden Austragungsstädten insgesamt rund 4.500 Sportler teilnehmen: „Es hätte an einigen Stellen noch mal eine etwas andere Grundlage als zum Beispiel die European Games, für die ein anderer Aufwand betrieben werden müsste.“
Henning Lambertz erkennt in der Doppelveranstaltung auch den Versuch, dem alles dominierenden Fußball medial zumindest ein bisschen Paroli zu bieten. „Ich glaube schon, dass viele versuchen, ein kleines Gegengewicht zu finden. Eine einzelne Sportart kriegt das momentan natürlich nicht hin“, sagt der Chefcoach der deutschen Schwimmer. „Aber in dem Verbund von vielen guten Sportarten ist es durchaus möglich, dass jemand die European Championships einschaltet und sagt: Ich verfolge leidenschaftlich gerne Leichtathletik, aber die zehn Minuten Schwimmen, die zwischendurch vielleicht mal aufblitzen, schau ich mir auch noch an. Und danach guck ich noch ein bisschen Turnen. Man versucht, die Zuschauer an sich zu binden – ähnlich wie bei den Olympischen Spielen.“
DOSB-Mann Schimmelpfennig erwähnt in dem Zusammenhang die Wintersportverbände, die mit ihren Formaten im TV positive Erfahrungen gemacht haben. „Große Verbände wie Leichtathletik, Turnen oder Schwimmen können sich in einem solchen komplexen Event deutlich besser präsentieren als mit einer einzelnen EM“, erklärt der 56-Jährige angesichts eines Gesamtpotenzials von gut einer Milliarde TV-Zuschauern. ARD und ZDF übertragen rund 100 Stunden von den Wettkämpfen in Glasgow und Berlin, bieten zudem bis zu drei parallele Livestreams im Internet an.
Falls die Feuertaufe ein Erfolg wird, überlegt Dirk Schimmelpfennig, wollen andere Sommersportarten künftig womöglich mit einsteigen. Andererseits drohe die Gefahr, dass es irgendwann vielleicht zu viele Sportarten werden. Doch in welcher Richtung die Sache auch gehe – eines steht für den gebürtigen Rheinländer fest: „Gerade jetzt, wo sehr viel in Bewegung ist, auch mit einer neuen Orientierung bei den Multisport-Events generell, wird es nach den European Championships eine sehr spannende Gesamtdiskussion geben.“
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