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Kapital und Arbeit

Beste historische Aufklärung: Lutz Raphael trug eine „Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung“ in der Adorno-Vorlesung in Frankfurt vor

Von Rudolf Walther

Die seit 2002 vom Frankfurter Institut für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag veranstalteten Ador­no-Vorlesungen bestritt in diesem Jahr der Trierer Historiker und Leibniz-Preisträger Lutz Raphael. Sein Thema: „Jenseits von Kohle und Stahl. Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung“. Mit der Wahl des Referenten bewiesen die Veranstalter einmal mehr, dass es ihnen nicht um die Etablierung einer Adorno-Deutungsphilologie geht, sondern um die Pflege kritischer Sozialwissenschaft in einem weit gefassten Sinne. Lutz Raphael erfüllte diese Erwartung mit seinen drei spannenden Vorlesungen zur De­in­dus­tria­lisierung der Schwerindustrie in Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik.

Der Prozess der „Verödung von Industrieregionen“ verlief in den drei Ländern in mancher Hinsicht ungleich und unterschiedlich schnell zwischen einem schockartigen Zusammenbruch in Großbritannien und einer kontrollierten und sozialstaatlich abgefederten Anpassung in der BRD. Aber in allen Ländern bewirkte die Deindustrialisierung „die Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit, insbesondere von Jugendarbeitslosigkeit“ und ihre weitreichenden Folgen.

Lutz Raphael betrachtet den Prozess der Deindustrialisierung nicht affirmativ als notorisch „alternativlosen“ Sach- und Systemzwang, sondern aus der Perspektive einer „Gesellschaftsgeschichte von unten und von gestern“, das heißt, er analysiert die Lebenslagen, Erfahrungen und Zukunftsaussichten von Industriearbeitern und Indus­trie­arbeiterinnen, denen es seit den 60er Jahren erging wie den Bauern und Handwerkern zum Beginn der Indus­tria­lisierung vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Arbeitskraft wurde über Nacht wert- und zukunftslos.

Die Deindustrialisierung macht die Arbeiter allerdings nicht obendrein brotlos wie damals die Bauern und Handwerker. Dafür sorgten in unterschiedlicher Intensität der im Wesentlichen nach 1945 in harten sozialen und politischen Kämpfen durchgesetzte Sozialstaat, die Sozial- und Arbeitsgerichte und vor allem die Gewerkschaften.

So entstand aus dem Arbeitsvertragsnehmer der sozial- und arbeitsrechtlich abgesicherte Industriebürger, dessen Status im Prinzip auf einem egalitär-demokratischen Modell beruht, an dem allerdings Frauen und Arbeitsemigranten noch bis in die jüngste Zeit nur partiell partizipierten.

Im Zuge der neoliberalen Gegenaufklärung nach 1968 versuchten Unternehmerverbände und konservative Politiker mit den Parolen Flexibilisierung, Deregulierung, Haushaltsdefizit, „schwarze Null“, „Gewerkschaftsmacht“, die Verbindung von Tarifverträgen mit sozial- beziehungsweise arbeitsrechtlichen Garantien zu lockern oder ganz zu kappen. Während das in Großbritannien weitgehend gelang, scheiterte der Versuch in Frankreich an der sporadischen, aber militanten „insubordination ouvrière“ (Arbeiterwiderstand) und in der BRD an der starken Gegenmacht der Gewerkschaften, die – nach zwei massiven Streiks der IG Metall – 1995 die 35-Stunden-Woche durchsetzten und als soziale Absicherung gegen die Folgen der Deindustrialisierung Frühverrentungen und Abfindungen durch Sozialpläne erzwangen.

Entgegen der Rechtsprechung, die politische Streiks in der BRD verbietet, nennt Raphael diesen Konflikt zu Recht einen „politischen Streik“ im Rahmen der „Konfliktpartnerschaft“ von Kapital und Arbeit beziehungsweise einen „demokratischen Klassenkampf“. Die „Industriebürgerschaft“ ist seither in der BRD eine unumstrittene Normalität, aber die „Norm demokratischer Sozialbürgerschaft“ blieb bis heute strittig und wurde mit der Agenda 2010 der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer mit nachhaltigen Folgen unterlaufen.

Wachsende Ungleichheit und die „Erosion lohnbasierter so­zia­ler Sicherheit“ führten auch zu einer Krise demokratischer Repräsentation, zum „Verlust gesellschaftsintegrativer Zukunftsperspektiven“ und zur Gefährdung des „politisch-moralischen Ordnungsmusters“ einer „demokratischen Sozialbürgerschaft“ durch das neoliberale Projekt einer marktkompatiblen Demokratie. Raphael bot beste historische Aufklärung.

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