piwik no script img

Kolumne MachtLeben in finsteren Zeiten

Bettina Gaus
Kolumne
von Bettina Gaus

Eine derartige Missachtung rechtlicher und humanitärer Grundsätze, wie ich sie derzeit beobachte, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Ist uns das wirklich egal? Foto: Imago/ Xinhua

D as Tempo, in dem sich das gesellschaftliche Klima verändert, ist atemberaubend. Vorschläge und Pläne, die noch vor wenigen Monaten als absurd, rechtswidrig und menschenverachtend gegolten hätten – zu Recht – werden inzwischen von den höchsten politischen Institutionen jenes Kontinents erörtert, der sich viel darauf einbildet, eine Wertegemeinschaft zu sein. Europa.

Schon wieder über Rassismus schreiben? Wird doch allmählich langweilig. Stimmt, allerdings nicht für die Betroffenen. Und worüber soll man denn sonst schreiben? Ich habe die Sätze von Bertolt Brecht immer für ein bißchen allzu pathetisch gehalten: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Inzwischen ahne ich, was der Dichter meinte.

Ich bin nicht blöd. Natürlich habe ich immer gewusst, dass rechtsradikale, nationalistische Positionen bis weit in die etablierte Mittelschicht hinein Zustimmung fanden und finden. Gibt ja genug Studien darüber und auch noch ein paar persönliche Erfahrungen.

Aber vielleicht bin ich doch blöd. Eine derartige Missachtung rechtlicher und humanitärer Grundsätze, wie ich sie derzeit beobachte, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Das Beispiel Seenotrettung

Beispiel Seenotrettung. Keine nette Geste hilfsbereiter Leute, sondern eine rechtliche Verpflichtung. Jeder Kapitän muss unverzüglich Hilfe leisten, wenn er von einer Notsituation erfährt – und zwar unabhängig von der Frage, wer da in Not ist und warum. Die Hilfsbedürftigen müssen an einen sicheren Ort gebracht werden. So klar und unmissverständlich ist das Völkerrecht in dieser Frage.

Ebenso klar und unmissverständlich machen demokratisch gewählte Regierungen und demokratische Parteien in Europa deutlich, dass sie sich darum nicht scheren. Am schönsten fänden sie es, wenn Hilfsorganisationen sich künftig ganz heraushielten aus der Flüchtlingsfrage. Zweitbeste Lösung: Sie übergeben Notleidende der so genannten libyschen Küstenwache, die zuverlässigen Berichten zufolge selbst mit Schlepperorganisationen zusammen arbeitet. Diese Küstenwache soll Flüchtlinge dann in Lager auf dem afrikanischen Festland – konkret: ins Bürgerkriegsland Libyen – bringen, wo mit Sklavenhandel einträgliche Geschäfte gemacht werden.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Menschenrechtsorganisation PRO ASYL weist darauf hin, dass ein derartiges Vorgehen auch europäischem Recht widerspricht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2012 in einem Grundsatzurteil entschieden, dass dies nicht mit dem Schutz vor Kollektivausweisung vereinbar ist.

PRO ASYL? Sind das nicht auch nur so „Gutmenschen“? Ja, genau wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen. Die in Meinungsumfragen unbeirrt und unbeirrbar für humanitäre Grundsätze, das Asylrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention und ähnlich lästige Prinzipien eintritt.

Obwohl es dieser Mehrheit derzeit – leider und noch immer – an einem Sammelbecken fehlt. Keine deutsche Bundestagspartei wehrt sich nämlich prinzipiell gegen die Aufweichung humanitärer Grundsätze. Glückwunsch an die AFD. Der es gelungen ist, mit schlappen 12,6 Prozent bei der letzten Bundestagswahl den Eindruck zu erwecken, sie vertrete „das Volk“. Also, mich vertritt sie nicht.

Übrigens: Die Nachrichtenagentur AP meldete in dieser Woche, dass Algerien in den letzten 14 Monaten viele tausend Flüchtlinge ohne Wasser und Nahrungsmittel in der Wüste ausgesetzt hat. Von denen, kaum überraschend, viele gestorben sind. Und das will niemand gemerkt haben? Trotz Nachrichtensatelliten? Ach, natürlich hat das jemand gemerkt. Aber es war denen, die es gemerkt haben, offenbar egal.

Noch einmal Brecht: „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Bettina Gaus
Politische Korrespondentin
Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).
Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Gut gebrüllt, Löwin. Starker Ausdruck steht bei Deutschen ja schon immer unter Pathos-Verdacht, da sie im Gegensatz zu Franzosen (oder sagen wir lieber, Bewohnern von Atlantis) zwischen authentisch und nicht-authentisch, zwischen sensibel und grob nicht unterscheiden können und entsprechend gewählt haben. Dieses Klischee hinkt natürlich wie jedes Klischee, aber ich liebe es. Wobei Özdemirs Rede zur AfD z.B. wirklich glaubwürdig war. Er wirkte plötzlich frei, nicht mehr so erschlagen vom Wählerauftrag.

    Aber was tut der Nachgeborene des Dramatikers aus den schwarzen Wäldern?



    Auftraglos gießt er in der Frühe ein paar uralte Bäume, die hier mitten in der Stadt am Verdorren sind, und für die Atmenden die letzte Zuflucht vor Ozonalarm, Feinstaub und Hitzewelle darstellen.



    Wir leben in schlimmen Zeiten, weil niemand revoltiert, alle wie Angela äußeren Druck auf sich nehmen und nur noch funktionieren, nur feige an sich selber denken und nur wenige noch genug Ameisengehirn haben, um die Dinge auf die Reihe zu kriegen, die fürs Überleben nötig wären.



    Den einzigen Ausweg, den ich sehe, ist der kollektive Selbstmord der Menschheit, um damit wenigstens die unschuldigen, noch übriggebliebenen Lebewesen zu retten. In Millionen Jahren wird dann der Regenwald in Brasilien oder Indonesien wieder so aussehen wie 1960.



    Ach, was rede ich für einen Blödsinn. Den kollektiven Selbstmord begehen wir ja längst jeden Tag ein bisschen mehr. Alles paletti. Oder wie Venus mal zu dem Blauen Planeten sagte, als sie ihn ihm zufällig im Weltraum traf:



    Letzte Zeit siehst du so blass aus, old Blue! Ach, stöhnt der blaue Planet, ich bin krank, ich habe Homo Sapiens! Venus winkt ab. Mach dir nichts raus, das hatte ich auch mal. Das geht vorbei.