Forscher über Mexikos WM-Erzählung: „Man will nicht genau hinsehen“
Der mexikanische Professor Tamir Bar-On über Pessimismus, Drogenkartelle und warum die Fans den Kapitän Rafa Marquez trotzdem feiern.
taz: Der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro sagte einst, dass jede Nationalmannschaft das soziale Model ihres Landes spiegelt. Gilt das für die aktuelle Nationalmannschaft?
Tamir Bar-On: Es findet seit längerem weltweit eine gewisse Homogenisierung der Spielsysteme, aber auch der Selbstdarstellung der Spieler statt, von daher wäre ich in der Formulierung vorsichtiger. Nichtsdestotrotz kann man Elemente eines nationalen Stils identifizieren: für Mexiko wäre das, ähnlich wie bei Nigeria oder dem Senegal, auch Brasilien, eine gewisse Unvorhersehbarkeit.
In dieser Tradition stehen auch die jungen Spieler, wie Corona und Lozano; das sind Straßenfußballer, schnell, trickreich, unvorhersehbar. Bei Deutschland weiß man schon vorher ungefähr, was man bekommen wird; das ist bei Mexiko – sowohl taktisch als auch individuell – nicht klar.
Dem widerspricht allerdings der Fluch des fünften Spiels: die letzten sechs WMs kam Mexiko ins Achtelfinale, sechs Mal in Folge kam es nicht darüber hinaus. Es ist wie ein Schicksal, das unüberwindbar scheint, und zu einer nationalen Erzählung wurde.
Da fallen Mannschaft und Gesellschaft auseinander. Die öffentliche Meinung ist, dass Mexiko ohnehin scheitern wird, es spiegelt einen allgemeinen Pessismismus, ja Defätismus wieder, der für meine Begriffe kennzeichnend ist für Gesellschaften, die mit Korruption zu kämpfen haben. Die generelle Haltung ist, dass sich sowieso nie etwas ändern wird, und dass man es auch nicht besser verdient hat. Die inzestuösen Verstrickungen von Zivilgesellschaft, Politik und den Narcos scheint zu stark, als dass sich jemals etwas tut; im Sport reflektiert sich diese Haltung, er ist hier nicht Spiegel der Gesellschaft, sondern Projektionsfläche ihrer Ängste.
In Mexiko hat selbst der Gewinn der Olympischen Spiele 2012 das nicht ändern können; das Achtelfinale gegen die Niederlande 2014, als man die klar bessere Mannschaft war und nach einem Zaubertor von dos Santos in den Schlussminuten doch noch verlor, hat sich viel stärker eingebrannt.
Tamir Bar-On ist Professor am Tecnológico de Monterrey. Er forscht zu den Themen Neue Rechte, Islamismus, Terrorismus und Fußball. 2014 erschien sein Buch „The World through Soccer – The Cultural Impact of a Global Sport“.
Mit Rafael Marquez wurde nun ein Spieler berufen, der einerseits Nationalheld ist und dem andererseits Verbindungen zu Kartellen vorgeworfen werden. Er soll als Strohmann Geld für einen Drogenhändler gewaschen haben.
Das war in meiner Wahrnehmung recht wenig Thema. Marquez wird am Ende dafür gefeiert werden, dass er wie vor ihm nur Carbajal an fünf Weltmeisterschaften teilgenommen hat. Es gab eine indifferente Grundhaltung der Affäre gegenüber; auch, weil es als sicher gelten kann, dass sich da noch sehr viel mehr Verstrickungen finden ließen, grübe man ein bisschen tiefer; das ist das Deprimierende daran. Man will gar nicht genau hinsehen, denn je genauer man hinsieht, desto düsterer wird es.
Transportiert sich dieser Fluch auch auf die Mannschaft?
Der aktuelle Coach Juan Carlos Osorio versucht, die restlichen Erwartungshaltungen zu dämpfen. Die Gruppe gilt in Mexiko als Todesgruppe, insbesondere die beiden europäischen Mannschaften, denen man Disziplin und Effizienz unterstellt, sind Anlass zur Sorge. Es gibt große Zweifel daran, ob man überhaupt in der Lage ist, die Vorrunde zu überstehen. Das macht den Druck von außen geringer, und das kann der Mannschaft helfen. Außerdem propagiert Osorio eine gewisse Unprofessionalität, die hoffentlich nach Innen Lockerheit kommuniziert.
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Eine Lockerheit, die dann aber auch umschlagen kann; als Chicharito kürzlich seinen Geburtstag feierte, waren die Zeitungen voll davon, dass eine Orgie veranstaltet worden wäre, dass die Spieler das Turnier nicht ernst genug nähmen, dass so der Fluch nicht durchbrochen worden wäre.
Das sagt uns etwas über die mexikanische Gesellschaft. Auf die Leistung der Mannschaft wird dieser Abend keinen Einfluss haben; man könnte sogar sagen, dass ganz im Gegenteil diese Art des gemeinsamen Exzesses – wie umfassend er auch gewesen sein mag – ein Zeichen ist, dass sich die Spieler gut verstehen. Das allerdings passt dann nicht zum common sense, dass man sich erstens unbedingt zu bemühen habe, große Anstrengungen zu unternehmen habe, um am Ende dann eben doch zu scheitern. Da schlägt eine gewisse Trost- und Hoffnungslosigkeit durch, der typisch mexikanischer Pessimismus.
Und wie geht das Spiel gegen Deutschland aus?
Ich werde immer angestaunt, wenn ich sage, dass ein Unentschieden möglich ist. Aber das halte ich für absolut machbar.
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