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Im Zeichen der Fahne

Überall in der Stadt ploppt zur WM die Deutschlandflagge auf – und damit auch die Frage der Bedeutung. Ein Spaziergang durch Kreuzberg, Zehlendorf und Falkensee

Achtung, Triggerwarnung: Motoradfahrer am Tag, als Deutschland gegen Mexiko verlor Foto: Kay Nietfeld/dpa

Von Alina Schwermer

In Neukölln und Kreuzberg ist der Fußball überall in der Luft, zwischen Hochhäusern, an halb verstopften Straßen, in der Hitze. Nichts konnte ihm etwas anhaben, nicht die kritische Vorberichterstattung, nicht Putin, nicht Erdoğan. Gefährlich für die Stimmung wäre nur ein Vorrunden-Aus. Der Fußball lebt in einer Parallelwelt, die ein bisschen frei ist und ein bisschen blind. Die Fahne, die Fußball heißt, hat für einen Moment die abgelöst, die Rechts heißt. Oder?

Kinder und Jugendliche in Deutschlandtrikots gehen die Prinzenstraße entlang. Ein Junge im Messi-Trikot kickt mit seinem Vater auf dem Bürgersteig. Ein Auto trägt Kroatien­beflaggung, eines Marokko, und eines halb-halb.

Der Herthaner, der seinen Balkon ganzjährig mit Hertha- und Deutschlandfahnen bepflanzt, ist groß dabei. Ein indisches Restaurant zeigt Deutschlandflagge. Zwischen Neukölln und Kreuzberg, in dieser bunten Verspieltheit, ist 2006 immer noch da.

WM 2006, geliebt und gescholten. Eine Befreiung aus dem Muff der ewigen nationalen Selbstgeißelung, die irgendwann ins Gegenteil umschlagen musste. Eine frohe Botschaft des Umgangs mit nationalem Trauma, der Entspannung, aber zu einem vielleicht ungünstigen Zeitpunkt. 2006 war auch der Boden, auf dem alles andere wuchs, dieses: Da muss man sich doch nicht schämen. Damals auf der Berliner Fanmeile ging es wohl mehr um Fußball, als hinterher daraus gemacht wurde. Die national-bunte Märchenerzählung kam später drauf. Fußball war der Seismograf des wachsenden Nationalismus, nicht das Beben. Was sagt es über Deutschland, dass es weiter flaggt? Offenbar fühlt sich niemand unwohl.

Der Fußball lebt in einer Parallelwelt, die ein bisschen frei ist und ein bisschen blind

Es ist viel über WM-Beflaggung in Post-AfD-Deutschland geschrieben worden. Die Stimmung hat sich geändert seit 2014, wo die AfD in Landesparlamente einzog. Die Flagge ist von den Nationalen besetzt worden. Jedermann First eine anerkannte Option. Aber der Umgang mit der Fahne hat sich interessanterweise nicht geändert. Sie wurde nicht weniger, nicht verschämter, aber auch nicht mehr. Ein Spaziergang durch Berlin zeigt vor allem: wie „same procedure“ alles ist.

In Tempelhof hat die Oma auf dem Balkon zwei Häuser weiter die Deutschlandfahne draußen. Das ist nichts Neues, sie hat sie Sommer wie Winter. Heimat? Einfach was Hübsches? Politik? Fußball ist es wahrscheinlich nicht. Die Tempelhofer Nachbarn holen erst zur WM die Fahnen raus. Tempelhof leuchtet. Kleine Deutschlandfähnchen stehen von den Autos ab, schwarz-rot-goldene Stofftücher sind über die Seitenspiegel gezogen. Die Flaggen an den Hauswänden sind groß wie trocknende Bettlaken.

Auch ganz weit draußen in Falkenberg regiert die Deutschlandfahne. Es gibt, so die Beobachtung, verschiedene Techniken der Beflaggung in Berlin. In Falkenberg, ohne Balkone, klemmt man die Flagge ins Fenster. Eine Art Gardinenflagge. In den innenstädtischen Balkon-Kiezen hängen Minifahnen waagerecht aus Blumenkästen. An den Villen im Südwesten, etwas weniger beflaggt, ist Schwarz-Rot-Gold zwischen Säulen aufgespannt. Kaum Unterschiede in der Dichte. Nur im Bergmannkiez fast keine Fahnen zu sehen. Liegt es an Fußball-Unlust, oder haben die Ökos Magenschmerzen bei der Fahne? Sie sind jedenfalls die Einzigen. Sonst weht das WM-Banner, wenig politisch wie eh und je, in Sehnsucht nach Heimat und Zusammenhalt. Eine Heimat, die jetzt anders erzählt wird.

Jérôme Boateng schaut lässig von einem Plakat. Zwei Berliner Jungs, Boateng und Rüdiger, zwei mit multikultureller Familiengeschichte. Und doch: Es ist nie egal gewesen, wo die Eltern eines Nationalspielers herkamen, auch nicht während des Sommermärchens. Manche galten als Deutsche, manche nicht, und die Entscheidung war erstaunlich subjektiv.

Kevin Kuranyi, brasilianisch-ungarischer-panamaischer Herkunft, wurde immer als deutsch betitelt, als Schwabe gar. Ähnlich wie Mario Gomez. Und Lukas Podolski, Miroslav Klose, Sami Khedira galten als Deutsche, obwohl die Ersteren beiden sogar im Ausland geboren wurden. Gezweifelt wurde aber, wenn, dann an Khedira. Özil und Gündoğan dagegen, geboren im Ruhrgebiet, waren immer Deutschtürken. Schwarz-Rot-Bunt gab es nie.

Die Tempelhofer Oma und ihre Fahne sind immer noch da. Ein bisschen süß, aus der Zeit gefallen, und wieder in der Zeit. Wer zuletzt bei Twitter zum Hashtag Mannschaft unterwegs war, konnte sich überzeugen, wie viele Menschen ankündigten, die WM zu boykottieren. Weil das Team nicht deutsch genug sei.

Gleichzeitig weckt die WM immer noch Neugier auf Neues, das andere, das Fremde. Fußball ist wieder Seismograf. Die Fahne sagt dabei gar nicht so viel; sie ist ein variables Symbol. Sie hat so lange überlebt, weil sie so viel konnte, im Guten wie im Schlechten. Und sie verschwindet wahrscheinlich nur in einem Fall: Wenn Deutschland ­gegen Schweden rausfliegt.

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