: Tausche Ball gegen Kinder
Thomas Ritter debütierte vier Minuten lang in der Nationalmannschaft. Zu einer Zeit, als noch nicht jeder genommen wurde, der sich Abwehrspieler schimpft. Heute lehrt der Fußballer keinem Stürmer mehr das Fürchten, sondern bildet sich in Kiel zum Erzieher für verhaltensauffällige Kinder aus
Zeit ist ein geschundener Begriff. Manchmal rinnt sie einem wie feiner Sand zwischen den Fingern hindurch, das andere Mal meint man, sie mit den Händen greifen zu können, so zäh fließt sie dahin. Vor allem ist sie wahrnehmungsabhängig. Blickt man einer knapp verpassten U-Bahn noch hinterher, kommen einem die vier Minuten Wartezeit auf den nächsten Zug schon mal wie eine halbe Ewigkeit vor. Thomas Ritter erschienen auf dem Höhepunkt seiner Fußballprofi-Karriere vier Minuten wie ein Wimpernschlag des gefühlten Glücks.
Dieser Augenblick, als er am 13. Oktober 1993 für Millionen Fernsehzuschauer erkennbar in den engen Kreis der Besten trat, ist für ihn ein unvergesslicher. In der kühlen Statistik eines Länderspiels reicht sein Name über den Status einer Fußnote nicht hinaus. 87 Minuten waren gespielt, als der damalige Fußball-Nationaltrainer Hans Hubert Vogts den Novizen Thomas Ritter (1.FC Kaiserslautern) gegen Stefan Effenberg einwechselte. Das Spiel war längst entschieden: 4:0 führte Deutschland gegen Uruguay; die 29.000 Zuschauer im Karlsruher Wildparkstadion bildeten schon lange einen Chor der Glückseligen. Letztlich siegte Deutschland mit 5:0 gegen die Südamerikaner. Es waren andere Zeiten.
Auch Ritter strahlte, als er nach dem Schlusspfiff über den Platz schritt und die Atmosphäre in vollem Maße auskostete. „Ich wollte bloß keinen Fehler machen, ein bisschen was zeigen, und das ist mir gelungen. Den Ball hatte ich drei oder vier Mal am Fuß“, erinnert sich der gebürtige Görlitzer. Trotz der einwandfreien Leistung wurde der Abwehrspieler nie wieder in die DFB-Auswahl berufen.
Four minutes of fame, vier Minuten des Ruhms, blieben ihm vergönnt. Und damit genau elf Minuten weniger als jene berühmt gewordenen „Fifteen minutes of fame“, die der amerikanische Pop-Art-Künstler Andy Warhol jedem Menschen auf der Welt für die Zukunft in Aussicht stellte. Auf der anderen Seite brachte es Ritter immerhin auf eine Minute mehr als Bernd Martin. Der Abwehrspieler des VfB Stuttgart durfte 1979 beim Spiel Wales gegen Deutschland (0:2) lediglich drei Minuten mitwirken. In der 97 Jahre alten Historie der deutschen Fußball-Nationalmannschaft kommt niemand auf eine kürzere Einsatzdauer. Mit dem Kapitel Fußball hat Ritter vor wenigen Wochen abgeschlossen. In der vergangenen Saison hatte er noch für die Mannschaft des schleswig- holsteinischen Oberligisten FT Eider Büdelsdorf gespielt – in erster Linie, um sich fit zu halten. Es passte nur leider alles zeitlich nicht mehr zusammen. Hier der Fußball, der längst wieder zu einem Hobby degeneriert war. Und auf der anderen Seite seine Familie mit Frau Petra und dem dreieinhalb Jahre alten Sohn Kilian, mit der er in Fockbek bei Rendsburg lebt, sowie sein neuer Beruf.
Während viele Bundesliga-Profis auch nach der aktiven Zeit in irgendeiner Form ihrem Sport treu bleiben, hat sich Ritter, im Alter von 37 Jahren, ein gänzlich anderes berufliches Umfeld gesucht. In Kiel lässt er sich zum Erzieher ausbilden. Seine Perspektive hat sich grundlegend gewandelt: Vom Spieler ist er in die Rolle eines zivilen Schiedsrichters geschlüpft, der in Situationen der Rudelbildung und allgemeinen Anspannung zwischen verhaltensauffälligen Kindern vermittelt, Lösungswege aufzeigt, ihnen Mut macht oder auch mal, wenn es notwendig ist, ein Machtwort spricht.
„Ich bin in den Beruf irgendwie reingerutscht“, sagt Ritter. Nach seiner Profifußballzeit, deren Endphase von Verletzungen und Frust geprägt war, habe er sich die Frage gestellt, was denn nun komme. Ein Freund, der als Erzieher tätig ist, weckte Ritters Interesse für einen Beruf, der alles andere als die klassische Fortführung einer Profikarriere darstellt. „Ich wollte mit Menschen arbeiten, gerne auch mit Jugendlichen.“ Ein Vorpraktikum führte dazu, dass er sich in seinem Entschluss bestätigt fühlte. „Natürlich war es eine Umstellung; sicher hat man Stress, und auch Enttäuschungen muss man hin und wieder hinnehmen, aber es hat Spaß gebracht. Als Trainer kann ich später immer noch arbeiten, wenn ich will.“ Seine Spielerkarriere mit den Stationen Fortschritt Bischofswerda, Stuttgarter Kickers, 1.FC Kaiserslautern, Karlsruher SC, erneut Stuttgarter Kickers, Austria Lustenau, dem chinesischen Erstligisten Changeh sowie Büdelsdorf entschwindet hinter der neuen Tätigkeit immer mehr in den Zustand längst gelebter Zeiten. Angesprochen auf seine Profikarriere werde er nicht mehr allzu häufig, sagt Ritter ohne Anzeichen von Bitterkeit. „Ein paar von den Jungs, die ich betreue, finden das aber ganz klasse, was ich gemacht habe“, sagt er nicht ohne Stolz.
Im Normalfall wissen jedoch nur die wahren Fußballfans, und vor allem die Statistikfreunde unter ihnen, mit seinem Namen noch etwas anzufangen und verwechseln ihn nicht mit dem ehemaligen Wolfsburger Thomas Rytter, einem Dänen. Vier Minuten in der Nationalelf brennen sich eben nicht so leicht in das Gedächtnis der Menschen ein.
Sicherlich hätte es für Thomas Ritter, der 1996 seinen größten Erfolg feierte, als er mit dem 1. FC Kaiserslautern DFB-Pokalsieger wurde, noch etwas besser laufen können. Verletzungen wie ein Mittelfußbruch oder ein Achillessehnenabriss standen dem jedoch im Weg. Nur: Wozu noch ärgern? Er habe aus seinen Möglichkeiten eine Menge gemacht, sagt er. Mehr als so mancher Mitspieler aus Bischofswerdaer Zeiten ihm vor seinem Wechsel nach Westdeutschland prognostiziert hatte.
Zunächst hatte es danach ausgesehen, als sollten die Skeptiker aus der alten Heimat Recht behalten. Als Ritters Karriere im Westen noch nicht so recht in Fahrt kam, hielt er sich mit einem Gelegenheitsjob als Landschaftsgärtner finanziell über Wasser. Ein Probetraining bei den Stuttgarter Kickers änderte alles. Trainer Rainer Zobel war derart von Ritters Fähigkeiten angetan, dass er ihn verpflichten ließ. Das Ticket für einmal Nationalmannschaft und zurück war gebucht, ohne dass er dies damals auch nur ahnte. Erst einmal folgte die Bundesliga (175 Spiele, 4 Tore) mit all ihren Annehmlichkeiten. „Ich habe das Glück gehabt, dass ich mit meinem Hobby einen Haufen Kohle verdient habe“, sagt Ritter.
Dass er nie den schillernden Star, sondern eher den unauffälligen, wertvollen Arbeiter auf dem Platz repräsentierte, war eine Typfrage. Ins Rampenlicht hat es den Defensiv-Allrounder nie gedrängt, offensive Eigenwerbung war nicht seine Sache. Vielleicht ist es nahe liegend, dass es bei vier Minuten im deutschen Trikot blieb. „Zur Nationalmannschaft gehören nicht so viele, und ich war halt dabei. Dass es letztlich nur vier Minuten waren, ist mir egal. Dieses Erlebnis habe ich für mich behalten, das zählt“, sagt Ritter. Christian Görtzen
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