Fotograf über Architektur in der DDR: „Ich liebe Ruinen“
Bauhistoriker Robert Conrad hat die Altstadt von Greifswald, den Führerbunker und die Berliner Mauer abgelichtet. Er fotografiert gegen die Zeit.
taz am wochenende: Herr Conrad, Ihre Fotos zeigen keine Porträts von Personen, sie zeigen immer Gebäude. Was haben Häuser, was Menschen nicht haben?
Robert Conrad: Erst mal halten sie beim Fotografieren still.
Stimmt.
Bei einem Menschen ist es schon eine große Kunst, den Moment zu finden, in dem er gerade die für ihn typische Ausstrahlung hat. Und wuselnde Menschengruppen sind genauso schwierig zu fotografieren wie Tiere bei einer Safari. Da sind Gebäude geduldiger.
Manchmal scheint es, als seien die von Ihnen fotografierten Häuser von einer ganz eigenen Atmosphäre umgeben, wie unter einer Glasglocke.
Das ist dann meistens eine eher trübe Atmosphäre, leicht melancholisch. Bei vielen Bilderstrecken achte ich darauf, dass kein blauer Himmel drauf ist und kein Laub. Die beste Zeit für meine Aufnahmen ist der Vorfrühling. Bei vielen meiner Fotoserien mit Gebäuden aus ganz verschiedenen Regionen passe ich auf, dass Licht und Himmel sie so verbinden, als stünden sie nebeneinander. Damit die Gebäude vergleichbar werden.
Die Person Geboren 1962 in Greifswald. Lebt seit Mitte der 80er im Berliner Prenzlauer Berg. Zu den Kunden des Bauhistorikers und Fotografen zählen Museen, Stiftungen, wissenschaftliche Institute, Presse- und Buchverlage im ganzen deutsch- und italienischsprachigen Raum. Zahlreiche Ausstellungen waren seiner Fotografie gewidmet. Er ist alleiniger oder Mitautor von einem guten Dutzend Bildbänden.
Das Projekt Conrad ist Mitbegründer des „Virtuellen Museums der Toten Orte (Vimudeap)“, eines Forschungsprojekts der HTW Berlin. Sie verfolgt das Ziel, tote Orte global zu sammeln und auch den Gründen für deren Nichtnutzung nachzugehen.
Im Jahr 1986 haben Sie Ihre Heimatstadt Greifswald fotografiert: Häuser mit bröckelndem Putz und teils leeren Fensterhöhlen. Sehr makaber. Hat der Niedergang Sie so deprimiert oder waren Sie das bereits vorher und haben sich dann die entsprechenden Objekte gesucht?
Keines von beidem. Greifswalder, die diese Bilder später sahen, haben sie auch für eine flammende Anklage gegen die damaligen Zustände gehalten. Natürlich fand ich es furchtbar, wie man diese Gebäude so lange vernachlässigte, bis die halbe Innenstadt abgerissen werden musste. Aber diese Bilder habe ich aus einem geradezu gegenteiligen Grund gemacht: weil ich schon als Teenager genauso verschroben war wie heute. Ich liebe eben Ruinen!
Eines Tages waren die Häuser an Ihrem Schulweg vom Erdboden verschwunden, von einem Tag auf den anderen.
Mein Lebensumfeld, wie ich es von Kindheit an gekannt hatte: am Hafen entlang und später der Schulweg durch kleine Gassen. Da kam das Gefühl: Das ist jetzt alles bald weg! Deshalb lernte ich fotografieren, um diese Häuser vor ihrem Abriss zweidimensional festzuhalten, um sie für den Rest meines Lebens wenigstens auf Fotos betrachten zu können.
Die Greifswalder Innenstadt glich damals einer Bühne für Gespenster. Wenn man sich als Akteur zwischen solchen Kulissen bewegt, prägt das auch die eigenen Rollen?
Insofern, als wir uns als Jugendliche in diesen Ruinen sehr romantisch einrichteten. Ich bin mit siebzehn aus dem Elternhaus aus- und mit meinem Freundeskreis in solche leerstehenden Wohnungen eingezogen. Unsere Möbel waren ja auch aus diesen Häusern. Unsere Vorbewohner hatten viel zurückgelassen! Bei uns allen standen Gründerzeitvertikos und schöne alte Schränke. Und wir haben es uns dazwischen gemütlich gemacht, mit Blumenkästen und Altarkerzen. Ein wichtiges Buch für uns war „Die andere Seite“ von Alfred Kubin. Da geht es um einen manischen, reichen Spinner, der verfallende Gebäude auf der ganzen Welt abbauen lässt, praktisch jeden Stein nummeriert und dann irgendwo in einer Einöde eine Stadt aus lauter verwunschenen Häusern errichtet.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ziemlich gruftimäßig.
Ja, unsere Kleidung stammte zum Teil auch aus diesen Häusern. Manche von uns trugen Schwalbenschwänze oder Gehröcke. Sogar Zylinder hatten wir manchmal auf, aber nur an besonderen Tagen. Wir waren so als eine Art Blumenkinder nostalgisch unterwegs, sehr zum Verdruss der bürgerlichen Erwachsenenwelt. Auch wenn wir die Häuser nicht demonstrativ mit Transparenten besetzten. Wegen der Abrisse mussten wir oft umziehen, und ich schleppte dann eine wachsende Sammlung von Antiquitäten mit, auch alte Dokumente. Wie ich heute aus meiner Stasi-Akte weiß, wurden ich unter dem Namen „der Sammler“ observiert.
Die Staatssicherheit hatte Sie erfasst?
Weil ich später auch in Magdeburg, Dresden und Aschersleben Abrisshäuser fotografiert habe. Sie luden mich dann vor und bezichtigten mich, die DDR zu verunglimpfen. Dass Fotografieren immer mal problematisch wurde, kannte ich vom Trampen, zum Beispiel in der Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien: Dass man da schnell mal mit dem Polizeiknüppel verprügelt wurde, weil man zufällig eine Brücke oder einen Bahnhof fotografiert hatte.
„On the Road“ in den sozialistischen Bruderländern.
Ja, Jack Kerouac hatten wir alle in der Tasche, und das Schwarze Meer war unser Kalifornien. Aber auch diese Reisen musste man erst bei der eigenen Polizei beantragen. Und man wusste nie, wo man im kommenden Sommer tatsächlich landen konnte. Dazu hatten wir auch so eine Romantik entwickelt und machten uns einen Sport daraus, die ganze Reise möglichst ohne Geld zu machen, indem wir dort Leute kennenlernten. Insgesamt war das gewollt unkomfortabel.
1985 konnten Sie dann einen Platz in einer ganz offiziellen Reisegruppe ergattern – in die Sowjetunion. Wie wirkten dort die Städte auf Sie?
Das war so eine Jugendtourist-Gruppenreise: Moskau, Jerewan, Tiflis, Baku. Mein Freund und ich hatten vor Ort ausgehandelt, dass wir tagsüber unserer eigenen Wege gehen durften. Und dann sind wir in Jerewan in so richtige Slums geraten und auch in Tiflis in die Altstadt, wo die Abwässer aus den Häusern noch am Rinnstein entlang liefen. Dabei total liebe Leute! Man sah uns beiden gleich an, dass wir nicht von dort waren, wir hatten lange Haare, Tausende von Glasperlen um die Hälse, und die Menschen waren total daran interessiert, uns kennenzulernen. Das wurde manchmal schon anstrengend. Manchen war es egal, ob wir aus Ost- oder Westdeutschland kamen, das lag für die gleich weit weg.
Und schließlich wollten Sie gar nicht mehr fort?
Das war in Aserbaidschan, am Kaspischen Meer. Ich war im Morgengrauen aufgebrochen, an dem Tag, an dem wir nachmittags auf dem Flughafen einchecken sollten, und dachte: Ich trampe halt jetzt so lange, wie’s geht. Ich hatte keinen Plan und wusste selbst, dass das verrückt war. Aber ich bin per Anhalter immer weiter in die Steppe gefahren, das war fast wie ein Rausch, so etwa 200 Kilometer, bis mich der KGB aufgriff.
Glücklicherweise ging alles glimpflich ab. Die Sicherheitsorgane geleiteten Sie gerade noch rechtzeitig zur Reisegruppe. In so einer konnte ja nicht jeder einen Platz ergattern.
Der Platz gehörte eigentlich der Freundin meines Freundes, und die war kurz vor der Reise krank geworden. Wie wir viel später erfuhren, war sie Stasi-Spitzel und hat Jahre lang Dossiers über uns verfasst. Außerdem hatte sie den klaren Auftrag, mir irgendetwas anzuhängen, eine kriminelle Straftat, egal was. Wie alle hatte ich Angst vor der Stasi, aber das hätte ich dann doch nicht erwartet.
Und weshalb sind Sie dann 1986 nach Berlin-Prenzlauer Berg umgezogen?
Na ja, die ewigen Drohungen der Stasi an meine Adresse nervten mich schon. Die ewigen Umzüge! Uns gingen allmählich die Häuser aus. Ein altes Gebäude nach dem anderen wurde durch Plattenbauten ersetzt. Ich entwickelte eine regelrechte Plattenphobie! Und dann war ich so verzweifelt, weil alle meine Bewerbungen um einen Studienplatz erfolglos geblieben waren. Ich jobbte auf dem Bau und als Heizer. Da sagte ich mir: Es reicht! Ich geh in den Westen! Man wusste: So ein Ausreiseantrag lässt sich von Berlin aus am besten durchziehen.
Aber erst mal zogen Sie noch viel kühnere Fotoprojekte durch. Sie drangen fast dreißig Mal als Bauarbeiter verkleidet in den Hitlerbunker ein. Auf den Fotos sieht man nur verrottete Gänge. Standen da nicht Hitlers Pantoffeln?
Nein, so was gab’s da nicht mehr. Die Sowjetarmee hatte dort in den 50er Jahren richtig fette Sprengungen veranstaltet. Diese Bauarbeiter, mit denen ich mitging, sollten die Sprengung des Restes vorbereiten. Das einzige Inventar, das ich noch gesehen habe, waren die verrosteten Reste der Etagenbetten, in denen die Goebbels-Kinder vergiftet wurden. Die Fotos gerade davon habe ich aber nicht mehr, denn ich bin dort auch mehrfach verhaftet worden, weil ich mich im Grenzgebiet bewegte. Ich hatte so einen Plan mit, der mir zeigte, was wo gewesen war. Von dem Raum, in dem sich Hitler und Eva Braun umgebracht hatten, standen nicht mal mehr die Wände. Mir reichte das Wasser stellenweise bis zur Schulter.
Warum wollten Sie da unbedingt rein?
Na, um zu sehen, was noch übrig war. Als ich erfuhr von den Plänen für einen weiteren Abriss, da kam mein Greifswalder Reflex: Festhalten, bevor es weg ist!
Sie haben auch von DDR-Dächern aus den Westen fotografiert. Wo war das möglich?
Zum Beispiel im E-Werk neben der Wilhelmstraße, jetzt ist das eine Event-Location, damals war es komplett verlassen. Darin bin ich herumgelaufen, schon ein bisschen mit weichen Knien. Denn alles, was zu nah am Westen war, da wusste man: Wenn sie dich erwischen, kann es Gefängnis geben. Und da bin ich bis auf das Dach gelangt und sah plötzlich ganz weit in den Westen hinein, über das Prinz-Albrecht-Gelände, Ich hab gemerkt, drunter ist der Todesstreifen und auch ein Wachturm, aber ich hatte das Gefühl: Die haben mich – im toten Winkel hinter einen Schornstein – nicht gesehen. Ich schoss, ohne genau zu zielen, mit Teleobjektiv zwei Filme voll. Unbehelligt nach Hause gekommen, habe ich sofort in der Dunkelkammer in meiner Küche die Bilder entwickelt und sie stundenlang begeistert angeschaut: den Martin-Gropius-Bau und ganz hinten den Anhalter Bahnhof, auch West-Berliner Menschen. Dann habe ich sie zerrissen und verbrannt, die Filme auch. Es war, als sei ich mal kurz drüben gewesen.
Mit noch mehr solcher Fotoaktionen an der Mauer haben Sie viel riskiert. Obwohl es ja eigentlich bereits mit dem Ausreiseantrag voranging.
1986 hatte ich beim Trampen in Ungarn eine Amerikanerin kennengelernt, die meinte, sie könnte mich rausheiraten, rein aus Solidarität. Sie war sehr fit, mutig und sozial und arbeitete zu Hause als Gefängnispsychologin. Im Oktober 1989 fand dann in Ostberlin die Eheschließung statt. Freunde hatten mir schon eine Wohnung in Berlin-Tempelhof reserviert. Ich war dann geschockt, als die Mauer aufging, ich wollte die DDR verlassen, und nun war sie schneller.
Immerhin konnten Sie dann gleich studieren. Und das, was sie wollten: Kunstgeschichte und Architektur. Und sofort die ganze Berliner Mauer fotografieren – und zwar von beiden Seiten! Wie lange haben Sie dafür gebraucht?
Ungefähr ein Jahr. Manchmal bin auf die Wachtürme geklettert, um mehr von ihr in ihrem Umfeld zu erhaschen. Am Staakener Hahneberg und am Dörferblick, einem Hügel ganz in der Südostecke von West-Berlin habe ich das natürlich auch genutzt. Am Ende dieses einen Jahres wurde sie stellenweise schon abgerissen. Das ging sehr schnell.
Da tat sie Ihnen auch wieder leid?
Als Fotoobjekt, ja. Ich hatte damals eine Idee, mit der konnte ich aber niemanden überzeugen: die ganze Mauer demontieren, die Einzelteile nummerieren und das Ganze dann irgendwo in der Sahara eins zu eins wiederaufzubauen.
Auch Ihre Plattenbauten-Phobie scheint inzwischen vergangen zu sein, das zeigt Ihr Zyklus „Plattensterben“.
Diese Bilder sind eine bauhistorische Hommage an diese Konstruktionsweise, und sie erzählen Geschichten von der DDR, von Zusatzschichten der Kranfahrer, vom Moped zur Jugendweihe, der Schrankwand, Hausgemeinschaftsfeiern und vom Stasi-Spitzel nebenan. Wie alle Architektur sind diese Bauten vollgesogen von jeder Menge Leben – auch wenn dieses hier nicht unbedingt meins war.
Sie beschäftigen sich viel mit dem Erbe diverser Diktaturen.
Ursprünglich interessierten mich das Bauhaus und die klassische Moderne in demokratischen Staaten. Aber viele Bauhäusler verschrieben sich still dem Bösen und arbeiteten dann beim Industriebau und für Militäranlagen. Dort stehen oft noch großartige Bauten, die sich unter anderen Umständen in Architekturführern wiedergefunden hätten. Interessant ist auch die pervertierte Moderne in Mussolini-Italien. Dort sind viel mehr großartige moderne Bauten entstanden als in Nazi-Deutschland. In Italien durften sich oft Architekten richtig austoben. Man denkt ja schnell, moderne Architekten müssten auch gute Menschen sein und humanistische Grundanliegen vertreten, aber die fanden es total klasse, dass man seine Feinde umbringt, und wollten mit moderner Architektur gerade dem Nationalismus huldigen. Da durfte auch mal jemand ein Kindererholungsheim in Schiffsform erfinden. Spuren der Ideologie findet man dann bis heute oft im Inneren, zum Beispiel Parolen an den Wänden.
Also Bauten bösartiger Regierungsformen.
Ähnlich ist es bei den Militäranlagen. Ich hatte mal ein Stipendium von der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst, für das habe ich drei Jahre lang mit einem Kollegen in der ehemaligen DDR sowjetische und ehemalige NVA-Kasernen fotografiert. Diese Arbeit über den Kalten Krieg habe ich inzwischen auch auf die alten Bundesländer erweitert. Zurzeit fotografiere ich aufgegebene Bundeswehrstandorte und NATO-Basen in ganz West-Deutschland. Zum Beispiel Orte, wo früher die Pershing-Marschflugkörper lagen. Mich fasziniert hier sowohl die schroff Zweckarchitektur als auch die konservierte Zeitgeschichte.
Derzeit beschäftigen Sie sich mit dem Berliner Flughafen-Tegel, der – aller Wahrscheinlichkeit nach – auch bald Geschichte sein wird.
Ich bin stolz darauf, zwei Jahre lang als Fotograf und – zusammen mit meiner Büropartnerin Margrit Kühl – auch als denkmalpflegerischer Gutachter den Flughafen zu untersuchen. Ein Gesamtkunstwerk aus den Siebzigern! Unsere Empfehlungen hinsichtlich einer denkmalgerechten Bewahrung fließen dann in das Entwicklungskonzept des Senats für die Zeit nach der Schließung ein.
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