piwik no script img

Bumbum mit Cellulite

Feministische Vorkämpferin oder Marketingprodukt? Brasiliens neuer Pop-Superstar Anitta polarisiert – und bildet in mehrfacher Hinsicht aktuelle kulturelle Diskurse ab

Umstrittene Nummer eins des brasilianischen Pop: Anitta Foto: Fernando Tomaz

Von Ole Schulz

Für einige Sekunden fängt die Kamera nur den wippenden Po Anittas ein. Der ist in ein rotes Höschen gequetscht, an ihren Oberschenkeln zeichnet sich unverkennbar Cellulite ab. Dann schwingt sich die Sängerin auf ein Motorradtaxi und lässt sich zu einem schleppenden Beat durch Rio de Janeiros Favela Vidigal chauffieren. Kurz darauf taucht sie eingeölt in einem knappen Bikini auf einem Favela-Dach auf, wo sich MCs anerkennend über ihren „Bumbum“ äußern, ihren ausladenden Hintern.

Der sparsam instrumentierte und zugleich eingängige Baile-Funk-Track „Vai malandra“ (auf Deutsch in etwa: „Auf geht’s, böses Mädchen“) wurde nach seiner Veröffentlichung Ende 2017 auf YouTube innerhalb weniger Tage über 70 Millionen Mal aufgerufen, während er auf Spotify schnell unter die 20 meistgehörten Songs kam – als erster portugiesischsprachiger Song überhaupt. Keine Frage: Larissa de Macedo Machado alias Anitta hat es geschafft. In Brasilien ist sie längst ein Star, nun steht sie auch international im Rampenlicht. Das Magazin Billboard zählt sie sogar zu den zehn einflussreichsten Künstlern in sozialen Netzwerken.

In Brasilien hat ihr Song „Vai malandra“ allerdings auch eine Debatte über Fragen wie Sexismus, Schönheitsideale, weibliche Selbstermächtigung und Cultural Appropriation ausgelöst. So werfen ihr einige Aktivisten vor, dass sie sich typische schwarze Modeelemente wie geflochtene Zöpfe, mit denen sie im Video zu sehen ist, aneigne. Andere preisen Anitta gerade dafür, dass sie das Favela-Leben und die Sexualität von Frauen aus ärmeren Vierteln feiere – wozu etwa das im Clip ebenfalls auftauchende Benutzen von Klebestreifen beim Sonnenbaden gehöre, was die Bräunungsstreifen besonders zur Geltung bringt.

Ihr Hit hat Debatten über Sexismus und Schönheitsideale ausgelöst

Mit Geschlechterklischees wird in dem Video jedenfalls nicht gespart – vor allem mit jenem leicht bekleideter und dem Arsch wackelnder weiblicher Schönheiten. Einige aber deuten Anittas Auftreten als das eines selbstbewussten „bösen“ Mädchens, das die Macho-Rapper nach ihrer Pfeife tanzen lasse. Weniger umstritten ist hingegen, dass es wohl keine gute Wahl war, ausgerechnet Terry Richardson als Regisseur für Videoclips zu verpflichten – der berühmte US-Fotograf wird inzwischen wegen Missbrauchsvorwürfen von großen Modemagazinen boykottiert.

Zumindest aber dafür, dass sie ihre Cellulite im Clip offen zur Schau stellt, wurde Anitta gelobt. „Es war meine Entscheidung, das Video nicht nachzubearbeiten. Die echte Frau hat Cellulite“, lautete ihr Kommentar dazu. Ohnehin müsse frau endlich mit diesen ganzen Körpervergleichen aufhören, forderte die mittlerweile 25-Jährige, die sich selbst als „feminista“ bezeichnet und im Kirchenchor einer ärmeren Nachbarschaft Rio de Janeiros mit dem Singen begonnen hat. Von dort aus hat Anitta dabei geholfen, den verrufenen Baile Funk aus den Favelas Rios in den Mainstream zu bringen – durch ihre weichgespülten Versionen dieses trashigen Genres, das viele aus Brasiliens Oberschicht bis heute für kulturell minderwertig halten und das seit Jahren auch von politischer Seite unterdrückt wird.

Elektro und Schnulze

Weitgehend losgelöst von solchen Fragen ging Anittas Karriere ab 2010 steil nach oben. 2013 wurde ihr erstmals vorgeworfen, ihr Haut aus Imagegründen „geweißt“ zu haben. Das hat sie zwar stets bestritten, aber offensichtlich ist auch, dass Anitta sich bereits in jungen Jahren mehreren Schönheitsoperationen unterzogen hat.

Top Ten in town

Manchmal bietet ja auch Orientierung, was die anderen so kaufen und hören. Drei Plattenläden haben der taz ihre 10 Topseller mitgeteilt

Groove City, Hamburg www.groove-city.com

Velly Joonas: „Stop Seisku Aeg!“ (Frotee Rec.)

Various Artists: „Turkish Ladies – Turkish female singers from the ’70s and ’80s“ (Epic)

Various Artists: „Altın Kaniş Klübü“ (Pudel Produkte)

Maryam Saleh, Tamer Abu Ghazaleh, Maurice Louca: „الإخفاء“/“Lekhfa“(مستقل / mostakell Rec.)

Al Massrieen: „موسيقى حديثة“/“Modern Music“ (Habibi Funk)

Barış Manço: „Sözüm Meclisten Dışarı“ (Pharaway Sounds)

Basa Basa: „Homowo“ (Vintage Voudou)

Various Artists: „Sweet As Broken Dates“ (Ostinato)

Derya Yıldırım & Grup Şimşek: „Nem Kaldı“ (Bongo Joe)

Luka Productions: „Fasokan“ (Sahel Sounds)

Dusty Groove, Chicago www.dustygroove.com

Airto: „Alue“ (Sesac)

Victor Assis Brasil: „Esperanto“(Far Out Rec.)

Victor Assis Brasil: „Toca Antonio Carlos Jobim“ (Far Out Rec.)

Various Artists: „Rumbita Buena – Rumba Funk & Flamenco Pop From The Belter & Discophon Archives 1970 to 1976 (Pharaway Sounds)

Joao Donato: „A Mad Donato“ (Discobertas)

Various Artists: „Le Monde Des Musiques Traditionelles (Ocora)

Edmony Krater: „An Ka Sonje“ (Heavenly Sweetness)

Hailu Mergia: „Lala Belu“ (Awesome Tapes From Africa)

Various Artists: „Diggin Japanese AOR. Mixed By DJ Muro“ (Universal)

Various Artists: „J Jazz – Deep Modern Jazz From Japan 1969 to 1984“ (BBE)

Optimal Records, München www.optimal-records.de

Barney Willen: „Moshi“ (Soufflecontinu Records)

António Sanches: „Buli Povo!“ (Analog Africa)

Elektro Dschungel: „Kebab-Träume“ (Tactile Musik)

Damon: „Son of Gypsy“ (Now Again)

Various Artists: „Uzelli Psychedelic Anadolu“ (Uzelli)

Ali Farka Toure: „The Source“ (World Circuit)

Various Artists: „The Hounting Sounds Of Yemenite-Israeli Funk 1973-1984“ (Fortuna Records)

Various Artists: „The Original Sound Of Mali“ (Mr.Bongo)

Various Artists: „Saigon Supersound“ (Saigon Supersound)

Various Artists: „Habibi Funk“ (Habibi Funk)

Dass sie einem ausgeklügelten Marketingkonzept folgt, bestreitet Anitta nicht. 2017 hatte sie vor „Vai malandra“ im Monats­takt vier Singles auf den Markt gebracht, die nicht nur unterschiedliche Genres bedienten, sondern auch in mehreren Sprachen gesungen waren. Dazu hat sie eigens Englisch und Spanisch gelernt – denn die wichtigste Zielgruppe dieser „strategischen Veröffentlichungen“ waren die USA und die dort lebenden Latinos. ­Neben einer Bossa-Nova-Imitation („Will I see you?“) und einer Elektronik-Nummer („Is that for me?“) lancierte sie – im Duett mit dem Reggaeton-Star J. Balvin – auch eine Schnulze auf Spanisch („Downtown“).

Wer in Anitta dennoch eine Vorkämpferin für die Rechte von Frauen sieht, dürfte im März enttäuscht worden sein: Nach dem brutalen Mord an der ­linken lesbischen Politikerin Marielle Franco, die wie Anitta aus einem von Rios Armen­vierteln stammte, weigerte sie sich zunächst, Stellung zu dem Vorfall zu beziehen. Nachdem sie von vielen Seiten dazu aufgefordert worden war, verlautbarte Anitta schließlich in einem ungehaltenen Statement auf Twitter, sie verurteile jeden Mord – egal ob das Opfer „rechts, links, hetero oder gay“ sei. Kurz darauf löschte sie den Tweet wieder.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen