Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Abgründe eines Weltverbesserers
Der Sozialreformer Raiffeisen wird gefeiert, ignoriert wird dabei sein Antisemitismus. Ein neues Buch sucht ein realistischeres Bild.
Vor allem Publikationen aus dem Südwesten Deutschlands übten sich in scheinbar lokalpatriotisch motivierten Lobhudeleien. Vom „Weltverbesserer aus dem Westerwald“ war zum Beispiel beim SWR die Rede. Der Südkurier nannte Raiffeisen einen „friedlichen Revolutionär der Solidarität“, der das Robin-Hood-Prinzip „Einer für alle, alle für einen“, das natürlich nicht das Robin-Hood-Prinzip ist, verwirklicht habe. Im Deutschlandfunk war zu hören, dass der Grundstein für Raiffeisens Genossenschaften der „unerschütterliche christliche Glaube und die praktizierte Nächstenliebe“ seines Elternhauses gewesen seien.
Das Buch „Raiffeisen: Anfang und Ende“ von Wilhelm Kaltenborn, seit 2002 Aufsichtsratvorsitzender der Zentralkonsum eG, setzt diesen unkritischen Auseinandersetzungen nun allerhand Abgründe entgegen. Anlass seiner Arbeit, so beginnt Kaltenborn gleich, sei die „mit Sicherheit zu erwartende Verklärung“, der der Genossenschaftler Raiffeisen nun, zum Gedenken an seinen 200. Geburtstag, ausgesetzt sein werde. Er sei sich sicher, so Kaltenborn weiter, dass Raiffeisens fanatischer Antisemitismus in den Würdigungen keine Erwähnung finden werde. Sein Buch ist also als Korrektiv gedacht, als notwendiges Geraderücken einer schiefen Perspektive.
Raiffeisens Judenhass, im christlichen Fundamentalismus begründet, war nämlich durchaus sinnstiftend für das genossenschaftliche Modell, das er als Bürgermeister von rheinland-pfälzischen Kleinstädten Mitte des 19. Jahrhunderts implementierte.
Fragwürdige Heldenerzählung
Er fantasierte vom jüdischen Wucherkapitalisten, der die arme christliche Bauernschaft in prekäre Verhältnisse zwinge, und setzte dieser Fiktion sein Ideal vom gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb in genossenschaftlicher Solidarität entgegen. Die Genossenschaft verstand er darüber hinaus als Maßnahme zur christlichen Erziehung. Der Glaube war wiederum wirksames Gegengift zu der von ihm so gehassten Sozialdemokratie.
Den unteren Volksklassen, sagte er, dürfe man „die Hoffnung auf ein besseres Jenseits nicht nehmen […], weil sie sonst ihr hartes Schicksal nicht mehr ruhig ertragen und der Umsturzpartei in die Arme getrieben würden“. Einen Umsturz nämlich wollte er unbedingt vermeiden; von der Gunst der preußischen Machtelite, das zeigt Kaltenborn auch, war Raiffeisens Sache direkt abhängig. Die deutsche Geschichtsschreibung hat diese wenig rühmlichen Beweggründe bisher entweder ignoriert oder verharmlost und sich lieber auf die Aspekte berufen, die zur Heldenerzählung taugen. Vor hundert Jahren, als peinliches Pathos noch nicht verpönt war, schrieb sein Biograf Willy Krebs zum Beispiel, dass einem aus dem Nachlass „ein warmer Hauch reinster Menschenliebe“ entgegenwehe.
Im Tonfall seriöser, im Grunde aber nicht minder unkritisch schrieb der Historiker Michael Klein Mitte der neunziger Jahre in seiner Dissertation (so ähnlich steht es noch immer auf Wikipedia), Raiffeisen sei, was Judenhass angehe, „leider ein Kind seiner Zeit“ gewesen. Er fügt hinzu, dass Raiffeisen stets bemüht gewesen sei, seine Ressentiments wissenschaftlich zu fundieren. Die aktuellen „Weltverbesserer vom Westerwald“-Schwärmereien legen nahe, dass die öffentliche Meinung zu Raiffeisen nicht differenzierter geworden ist.
Wilhelm Kaltenborn: „Raiffeisen – Anfang und Ende“. Zentralkonsum eG/Books on Demand, 2018, 110 Seiten, 6,99 Euro
Es soll ja nicht darum gehen, das genossenschaftliche Modell als solches zu diskreditieren oder Raiffeisens unbestreitbare Verdienste als Sozialreformer kleinzureden. Dennoch ist mit geschichtsrevisionistischen Lobhudeleien niemandem gedient.
Einen Antisemiten muss man einen solchen nennen. „Kind seiner Zeit“-Rechtfertigungen zählen nicht. Seine Zeit, darauf weist Kaltenborn hin, hatte auch andere Kinder.
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