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Die Unerreichbaren

In Bremen liefern sich Obdachlose einen Konkurrenzkampf um die lukrativen Plätze. Wenn sie aus Osteuropa kommen, schicken sie das Spendengeld oft nach Hause – zu ihren Kindern

Von Eva Przybyla

Eigentlich sind sie überall in der Innenstadt. Sie verkaufen die Straßenzeitung oder betteln, wie Alessa (43) am Bremer Hauptbahnhof. Sie kniet auf einem Kissen neben einem Mülleimer, in den immer mal wieder ein Vorübergehender nach Pfandgut schaut. Auf dem Kopf trägt sie eine Teddybärmütze, sie hält eine pinke Fleecedecke um den Körper geschlungen. Alessa kommt aus der Slowakei und ist schon seit sechs Jahren in Bremen – obdachlos. Beim alten Güterbahnhof schläft sie in einem Campingwagen, auch in diesen Tagen bei Minusgraden. Eigentlich lebt sie nur mit ihrem Mann dort, erzählt Alessa, aber als ich frage, ob ich ihren Wagen sehen darf, verneint sie bestimmt: Ihre Kollegen wollen nicht, dass Fremde dorthin kommen.

Mehr über diese Kollegen zu erfahren, ist schwierig. Alessa kennt nur wenige deutsche Wörter, und ihre Mitbewohner auf der Brache hinter dem alten Bahnhof kennt niemand. Ungefähr 70 müssten es sein, sagt Harald, ein Obdachloser, der in der Nähe lebt. „Sie haben sich mit Baustellenmaterial kleine Behausungen gebaut“, erzählt er. Viele lebten in Autos, die mittlerweile durch den Umbau eher LKWs ähnelten. Die meisten kämen aus Rumänien, Bulgarien und Polen.

Nach Angaben des Sozialressorts sind das die Top-Herkunftsländer der obdachlosen EU-BürgerInnen in Bremen. Schätzungsweise hundert sind es insgesamt, ein Sechstel der hiesigen Obdachlosen. Sicher ist sich der Pressesprecher des Sozialressorts, Bernd Schneider, jedoch nicht: „Das ist ein Kommen und Gehen. Außerdem gibt es keine An- und Abmeldung.“

Im Alltag fallen Leute wie Alessa nicht nur durch jede Statistik, sondern auch durch jedes soziale Hilfenetz. EU-BürgerInnen haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland, es sei denn, sie arbeiten und haben Kinder. Alessa findet hier keinen Job, ihr Deutsch sei zu schlecht, sagt sie. Deshalb isst sie kostenlos bei der Bahnhofsmission, für den Rest bettelt sie. Doch offenbar ist das für sie besser als die Arbeitslosigkeit, die ihr in der Slowakei droht. Dort habe sie vier Kinder, die sie mit den Geldspenden vor dem Bremer Hauptbahnhof ernähre, sagt Alessa. Stets zwei Monate lang bringen sie und ihr Mann das Spendengeld zur Post, um es den Kindern zu schicken. Dann fahren sie zu ihrem Nachwuchs und leben in einer kleinen Stadt in der Südslowakei zusammen – jedoch nur für kurze Zeit. Schon nach einem Monat nehmen die Eltern wieder den Bus zurück zum Bremer Hauptbahnhof.

Nicht nur Alessa und ihr Mann fahren in ihre Heimatländer. Besonders über Ostern sind viele weg, erzählt Florin. Er ist Rumäne und verkauft seit vielen Jahren die Bremer Obdachlosenzeitung. Mit den wenigsten Rumänen auf der Straße möchte Florin noch etwas zu tun haben. Sie fragten ihn zu viel, sagt er.

Verlässlich sind die Spendeneinnahmen von Alessa allerdings nicht – die Slowakin und viele andere osteuropäische Obdachlose sind auf die Tafel und die Bremer Suppenengel angewiesen. Noch wichtiger ist es aber, einen der wenigen lukrativen Bettel- und Verkaufsplätze zu besetzen. Die zu verlieren ist fatal für Obdachlose und ein Grund, warum viele trotz Minusgraden nicht die Notunterkünfte der Stadt nutzen, sagt Jonas Pot dOr, der als Streetworker bei der Inneren Mission arbeitet.

Um die lukrativen Plätze würden regelrechte Revierkämpfe ausgetragen, erzählt der obdachlose Alex. Dabei stünden sich häufig deutsche und osteuropäische Obdachlose gegenüber. Das ist für Pot dOr nachvollziehbar: „Osteuropäer sind stärker angewiesen auf die Obdachlosenzeitungen und die Bettelplätze“, kommentiert Pot dOr. Deutsche Obdachlose hätten dagegen ja in der Regel einen gesetzlichen Anspruch auf Sozialleistungen, den viele nur nicht nutzten. Am Ende zeige sich auf der Straße die Ungerechtigkeit, die im ganzen Land herrsche, sagt dOr. „Da gibt es keine Solidarität.“

Zum Glück währen die Streitigkeiten zwischen den Obdachlosen normalerweise nur kurz, wenn man Alex glaubt. Gelöst werden sie mit der klaren Aufteilung der Reviere. In der Regel dominieren beispielsweise deutsche Obdachlose die Bahnhofshalle. Ebenso klar getrennt sind die Nachtlager. Als Grund dafür manche geben deutsche Obdachlose an, dass viele Osteuropäer stehlen würden. Ein weiterer Vorwurf ist, dass sie in Mafiastrukturen organisiert seien. Auch Alex erzählt, er habe schon Menschen aus teuren Autos steigen und das gesammelte Geld abholen sehen.

Für Pot dOr sind das Vorurteile. Klar sei, dass insbesondere osteuropäische Obdachlose unter einem gnadenlosen Existenzdruck stehen und keine Perspektive in Deutschland haben. Ohne Deutsch finden sie keinen Job. Selbst wenn sie eine Arbeit hätten, wären sie weiterhin obdachlos und würden nur schwer eine Wohnung finden. „Sie haben keine Chance“, sagt Pot dOr. Hilflos fühlt er sich angesichts dieser unauflösbaren Probleme. Dennoch versucht er stets aufs Neue, osteuropäische Obdachlose zu erreichen, notfalls auch mit einem Übersetzer, der über das Handy mit den Betroffenen spricht.

ÜbersetzerInnen für Rumänisch, Bulgarisch und Polnisch sind in Bremen rar. Viele MigrantInnen aus Osteuropa greifen aus diesem Grund auf unseriöse Anbieter zurück und lassen sich für viel Geld Anträge erklären, erzählt Agnieszka Pröfrock von der Bremer Beratungsstelle für neu zugewanderte EU-Bürger, kurz „Binnen“ genannt, die ebenfalls von der Inneren Mission betrieben wird. Sie selbst übersetzt aus dem Polnischen ins Deutsche.

Heute gibt Pröfrock wohnungslosen EU-BürgerInnen ihre Post. Denn auch wenn sie nicht obdachlos sind, so sind Hunderte doch ohne festen Wohnsitz: Sie schlafen bei Verwandten und Freunden wie Miglena Antonova (65). Schon seit zwei Jahren wechselt die Bulgarin stets aufs Neue ihren Wohnort. Eine eigene Meldeadresse hat sie nicht, weshalb sie bei der Beratungsstelle eine eigene Postadresse beantragt hat. So erhält sie immerhin die Briefe von den Behörden, so wie circa 800 andere EU-BürgerInnen, die bei der Beratungsstelle gemeldet sind.

Antonova lächelt viel, wenn sie spricht. Falten durchziehen ihr Gesicht. In Bremen arbeitet sie als Reinigungskraft für ein kleines Unternehmen, was für sie immer noch besser ist, als in Bulgarien arbeitslos zu sein. Weil sie dort keinen Job mehr fand und es keine Sozialhilfe gab, emigrierte sie zunächst nach Griechenland, bevor sie nach Deutschland ging.

Die BeraterInnen kennen das Phänomen des Hin- und Herziehens zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Wie Antonova gingen Migrantinnen häufig in andere Länder, wenn es mit dem Job in einer Stadt nicht klappe. Zurück in ihre Heimatländer gingen die wenigsten – teils aus Scham darüber, gescheitert zu sein, teils, weil sie hier mit ihrer Arbeit immer noch viel mehr verdienten als in ihren Herkunftsländern, sagt die Leiterin von Beratungsstelle, Petra Wulf-Lengner. Dabei seien die Löhne und die Arbeitsbedingungen in Deutschland miserabel. Die Osteuropäer seien oft extremem Druck ausgesetzt und müssten in Schichten arbeiten.

Auch wenn sie nicht obdachlos sind, so sind Hunderte in Bremen ohne festen Wohnsitz: Sie schlafen bei Verwandten und Freunden – so wie Miglena Antonova

Außerdem gebe es viele Betrüger, sagt eine andere Beraterin und erinnert an die Fälle von bulgarischen Subunternehmern, die Arbeitskräfte über Facebook mit falschen Angaben nach Deutschland gelockt hatten. Dann fing der Job eigentlich nie richtig an. In solchen Fällen werden die sowieso schon wohnungslosen Frauen und Männer in Kürze auch noch arbeitslos und verlieren so ihre einzige Einnahmequelle in Deutschland. Es folgen Schulden, gesundheitliche Probleme und, in manchen Fällen, die Obdachlosigkeit.

Aus dieser Spirale kommen die EU-BürgerInnen nur mit einer Arbeitsstelle wieder heraus: Selbst wenn das Gehalt nicht zum Leben reicht, können sie dann aufstockende Leistungen vom Jobcenter beantragen. Auch Wohn- und Kindergeld können sie beantragen.

Antonova ist mittlerweile finanziell stabil. Sie holt heute Post von der Krankenversicherung ab. Vor Kurzem hatte sie eine erfolgreiche Operation. Wie Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan müsste sie nun eigentlich den nächsten Schritt machen: sich integrieren und Selbstständigkeit erlangen, indem sie Deutsch lernt. Besonders bei den Sprachkenntnissen sehen die MitarbeiterInnen der Beratungsstelle großen Bedarf: Ohne Deutsch können sich die Menschen weder informieren noch bewerben.

Beratungsstellen-Leiterin Wulf-Lengner sieht hier einen Fehler im europäischen System: „Es geht immer nur um günstige Arbeitskräfte bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die sozialen Bedürfnisse dieser Menschen werden komplett ausgeblendet.“ Besonders Frauen und Kinder würden das Haus kaum verlassen, wenn sie denn überhaupt nach Deutschland nachgeholt würden. Am Ende hätten es besonders die Kinder in den deutschen Schulen sehr schwer.

Das Wartezimmer bei der Postausgabe der Beratungsstelle ist brechend voll. Die wartenden Frauen und Männer sind erschreckend jung.

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