Andreas Rüttenauer Kulturbeutel: Wir wollen heulen, bis das Eis geschmolzen ist
Deutschland friert. Es ist saukalt. Selbst Gefühle drohen einzufrieren. Nur einmal wurde den Deutschen in den vergangenen Tagen so richtig warm ums Herz. Der Tag, an dem das Traumpaar Aljona Savchenko und Bruno Massot mit einer Traumkür Traumnoten von den Kampfrichterinnen bei Olympia einfuhr, ist unvergessen. Kein Bodycheck eines mit Silber prämierten Eishockeyspielers kann es aufnehmen mit den irrwitzigen Drehungen der beiden Eiskünstlerinnen. Deutschlands schönstes Olympiaereignis 2018 wird die Goldmedaille im Paarlauf bleiben. Das Wunder von Gangneung muss ins Kino!
Drehbuchautoren sitzen gewiss schon zusammen, um eine Geschichte auszuarbeiten, die den deutschen Kinozuschauern Tränen in die Augen treiben soll. Leicht wird das nicht. Gefühlskino auf Schlittschuhen gibt es schon zuhauf. „Das große Glück“, die Schmonzette um das deutsche Vorgängertraumpaar von Savchenko und Massot, die Doppel-Olympia-Silbermedaillen-Gewinner Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler, hat 1967 eine ganze Nation zu Tränen gerührt. Tränen liefen auch aus den Kinoleinwänden, als 1990 die deutsche Ostwestikone Katarina Witt in „Carmen on Ice“ auf Schlittschuhen um Don José und Escamillo herumscharwenzelte. Und auch wenn sich manch ein Zuschauer gewundert haben mag, wie kalt es in Sevilla werden kann, durfte er doch heulen wie ein Schlosshund zur Musik von Georges Bizet.
Mindestens ebenso dramatisch wird es zugehen, wenn Ende März der Film „I, Tonya“ in die deutschen Kinos kommen wird. Darin wird noch einmal die irre Geschichte der verhinderten Eisdiva Tonya Harding erzählt, deren Freund eine Schlägerbande angeheuert hat, die ihrer begabteren und natürlich viel schöneren US-Teamkollegin Nancy Kerrigan vor den Olympischen Spielen 1994 in Lillehammer mit einer Brechstange die Knie zertrümmern sollte. Wer da nicht weinen muss, dem muss das Herz wirklich eingefroren sein. Es ist das Leben, das diese Geschichte über die hässliche Seite des schönen Sports geschrieben hat.
Welche Geschichte aber hat das Leben über Bruno Massot und Aljona Savchenko geschrieben? Haben die überhaupt eine leinwandtaugliche Story oder müssen sie irgendeinen Opernstoff aufs Kinoeis tanzen? Wagner sollte es dann schon sein, Lohengrin vielleicht, Savchenko als Elsa von Brabant und Massot als Lohengrin. Das könnte gehen, bestünde da nicht die Gefahr, dass man sich in Frankreich schlapplachen würde über die Wandlung von Massot vom französischen Eiskunstläufer zum sagenhaften deutschen Helden.
Im Herkunftsland von Massot ist ja auch sein Olympiasieg nicht allzu gut angekommen sein. Er habe ihn unter falscher Flagge errungen, hieß es. Nur Neid oder filmreifer Hass? 30.000 Euro Ablöse soll die Deutsche Eislaufunion für Massot an die Franzosen gezahlt haben, damit er die Freigabe für Deutschland erhält. 30.000 Silberlinge für zwei Goldmedaillen. Biblische Dimensionen sind das. Daraus lässt sich doch etwas stricken. Eine klandestine Übergabe des Ablösegelds auf der Europabrücke am Rhein vielleicht.
Und dann ist da noch die Geschichte mit Massots Einbürgerung. Weil er so viel trainieren muss, klappt es mit dem Sprachtest nicht. Der strenge Beamte der zuständigen Behörde lässt sich auch durch die schönsten Pirouetten nicht bestechen. Oder doch? Hat nicht die Mutter des Beamten immer von dem unvergesslichen Tag erzählt, an dem sie Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler live hat laufen sehen? Und hatte seine Schwester nicht ein Poster von Katarina Witt in ihrem Jugendzimmer? Müsste er nicht ein Herz für den Eiskunstlauf haben? Hätte er gewiss, würde ihm nicht der Tod seines Bruders, der einst auf seinen neuen Schlittschuhen in einen noch nicht ganz zugefroren See einbrach, bis heute zu schaffen machen. Was Tragisches. Mit Happy End. Wir sind gespannt.
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