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Historikerin erforscht DemütigungFacebook und andere Pranger

Eine Geschichte der Erniedrigung seit dem 18. Jahrhundert hat die Historikerin Ute Frevert zu schreiben versucht. Jetzt stellt sie „Politik der Demütigung“ in Hamburg vor.

„Ich bin ein Bully“: Ein Gericht schickte diesen Mann in Cleveland, Ohio, in die Öffentlichkeit – mit einem ihn selbst bezichtigenden Schild Foto: Aaron Josefczyk/Wikimedia Commons

HAMBURG taz | Demütigung … ist die nicht voll 20. Jahrhundert? Wer sich nicht ganz sicher ist, ob die Historikerin Ute Frevert sich für ihr jüngstes Buch ein relevantes Thema gewählt hat, den könnte das nächste Öffnen des Internet-Browsers eines, nun, Besseren belehren. Die harmlose Variante ist dann etwa der Hinweis einer Streamingplattform auf einen betont skurrilen Film: “Ein Frisör rächt sich an einem ungehobelten Kunden mit einer Skinheadfrisur“. Oder die (gefühlt) allerorten anzutreffende Berichterstattung über all jene in der CDU, die sich gerade gedemütigt fühlen vom Ausgang der Koalitionsverhandlungen (bzw. von der Kanzlerin ganz persönlich).

Ein schwerer wiegendes Indiz für die mitnichten geschwundene Bedeutung von Ehre und Kränkung, Selbstwert und Demütigung liefert vielleicht jene 13-Jährige, deren Schicksal auch Frevert referiert: „Das Mädchen springt im Mai 2015 von einer Brücke im US-Bundesstaat Washington, weil es die öffentliche Beschämung durch den Vater nicht erträgt.“ Der hatte, erbost über einen eigentlich ganz alltäglichen Regelverstoß, dem Teenager den Kopf geschoren – ein Frevert zufolge archaisches, durch die Zeiten aufzuspürendes Instrument der Demütigung insbesondere von Frauen.

Die besondere Brisanz jenes zunächst ja trivial klingenden Familienstreits lag darin, dass der Vater das für seine Tochter so erniedrigende Haare-Abschneiden filmte und die Aufnahmen im Internet veröffentlichte; eine maximale zeittypische Weise, Öffentlichkeit herzustellen, die der Demütigung aber von jeher zu eigen ist – es ist kein Zufall, dass in Pressekommentaren rasch der Pranger und das „dunkle Mittelalter“ bemüht wurden.

Überhaupt die Sache mit dem Internet: Gäbe es das nicht, gäbe es nicht Shitstorms und Lagerdenken und Bloßstellung von Allerintimstem unter minimalem Aufwand, man wäre vielleicht versucht, die Geschichte der Demütigung als eine der Domestikation zu erzählen: Stellte der Mensch der Vergangenheit einen Übeltäter vielleicht noch gern bloß (und bewarf ihn obendrein mit faulem Obst und Schlimmerem), kam dann aber die Aufklärung und brachte gleich noch die Idee der Menschenwürde mit, und das wars. Eine Rezension von Freverts Buch, erschienen ausgerechnet in der – auf dem Papier – stramm antifaschistischen Welt legte gar dar, dass nicht mal mehr den Nazis der Pranger noch zeitgemäß erschienen sei, belegt das aber mit gerade mal einer Anekdote.

Ute Frevert in Hamburg

Ute Frevert: „Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht“ Verlag S. Fischer 2017, 336 S., 25 Euro

Ute Frevert im Gespräch mit Gary S. Schaal: Di, 13. 2., 12.15 Uhr, Palais Esplanade, Esplanade 15 - Anmeldung erforderlich unter: www.akademie-nordkirche.de/veranstaltungen/formshort/anmeldenkurz/443

Philosophisches Café mit Ute Frevert (Moderation: Reinhard Kahl): Di, 13. 2., 19 Uhr, Literaturhaus

Frevert nun erzählt ihre Geschichte beginnend im 18. Jahrhundert und „schwerpunktmäßig in Europa, aber auch mit Blick auf andere Weltgegenden“. Fand mancher Rezensent, ihre Begriffe, ihr Blick auch, würden unschärfer, je näher die Autorin – Historikerin und derzeit Leiterin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung – der Gegenwart komme, sahen andere da vielmehr eine brillante Vermittlerin teils sperriger Forschungsstände am Werk.

Wenn Frevert am Mittwoch nun gleich zweimal in Hamburg auftritt, ist dann ja vielleicht auch Gelegenheit, sie zu fragen: nach der Rolle des Internets als modernem Pranger-Pendant – und dem Christdemokraten derart Demütigenden an der Karriere des Olaf Scholz.

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