Buch und Schau zu jüdischer Malerin: Dramaturgin des eigenen Schicksals
Eine neue Werkausgabe von Charlotte Salomons „Leben? Oder Theater?“ ist erschienen. In Amsterdam zeigt eine Ausstellung den Bilderzyklus.
Was mit der eigenen Selbstverortung passiert, wenn man nach dem Selbstmord der Großmutter erfährt, dass die eigene Mutter nicht durch eine Grippe, sondern ebenfalls durch einen Suizid aus dem Leben geschieden ist: Charlotte Salomon hat dies und anderes ab 1940 in einem gigantischen Bilderzyklus aufgezeichnet und dafür den programmatischen Titel „Leben? Oder Theater?“ gefunden.
Die familiäre Schwermut, die Suizide, die falschen Geschichten lassen vieles als absurde Darstellung erscheinen – ohne dass dadurch Kindheit und Jugend, Kunststudium im Nazi-Berlin und später das Leben im besetzten Frankreich zwingend weniger intensiv erfahren und beschrieben würde.
Im Hauptteil ihres komplex erzählten Singspiels, wie Salomon ihr Werk nannte, weil es sich immer wieder auf Musikstücke bezieht, entfernt sie sich zunehmend von der konkreten Autobiografie und stellt die grundsätzliche Frage an die Welt: Was ist Realität, was ist Fiktion?
Spätestens mit der 13. documenta wurde der Bilderzyklus einem größeren Publikum bekannt; unzählige Gouachen, in denen die Künstlerin sich zur Dramaturgin des eigenen Schicksals machte. Trotz Themen und Farbgebung in düsterer Grundstimmung, ringen die dicht erzählenden Blätter Charlotte Salomons Lebensgeschichte ein Maximum an Vitalität ab. Auch deshalb soll Salomons Ermordung mit 26 Jahren in Auschwitz, nur kurz nach Fertigstellung ihres Werk, ebenjenes nicht nachträglich bestimmen.
Wie deshalb Kuratoren und Angehörige für „Leben? Oder Theater?“ in den 60er Jahren eine passende künstlerische Form suchten, um Charlotte Salomon posthum als Künstlerin und nicht primär als Holocaust-Opfer zu etablieren, erzählt Judith C. E. Belinfante, ehemalige Direktorin des Joods Historisch Museum in Amsterdam, in einer neuen Werksausgabe, die vor Kurzem im Taschen-Verlag erschien.
Irritierende Auswahl
Die vorangestellten Essays von Belinfante und Evelyn Benesch sind wichtiger und spannender Bestandteil des Bildbands, den eine Sprecherin des Taschen Verlags als eine Einführung in Salomons Kunst und zu ihrer Person versteht. Dass Taschen sich aus ihrem ursprünglich immerhin 1.325 Einzelseiten umfassenden Werk einen Teil herausgreift und diesen a priori als „die wichtigsten 450“ Bilder bezeichnet, wirkt allerdings irritierend bei einem Titel, der mit den berühmt gewordenen Worten der Malerin wirbt, mit denen sie das Werk vor ihrer Ermordung an einen Freund übergibt: „Sorg gut dafür, es ist mein ganzes Leben!“
Charlotte Salomon: „Theater? Leben?“. Taschen Verlag 2017, 600 Seiten, 30 Euro. Die Ausstellung läuft noch bis 25. März im Joods Historisch Museum Amsterdam.
Dass es pragmatische oder auch konzeptionelle Gründe geben wird für die Reduzierung des umfangreichen Werks – geschenkt. Nur sollten dann die Kriterien, nach denen die Relevanz eines einzelnen Bildes bewertet wurde, offengelegt werden.
Man muss dem Verlag zugute halten, dass Salomons Singspiel trotz seiner grundsätzlich chronologischen Handlung nicht so leicht in die klassische Buchform zu bringen ist. Dabei ist der Umfang gar nicht einmal die große Herausforderung: Die Malerin hat ihre einzelnen Blätter oft kleinteilig oder wild in alle Richtungen beschrieben, mit erklärenden Transparenten versehen und bisweilen beidseitig bemalt. Im Buch findet man so ein großes Hauptmotiv auf der einen, neben transkribiertem Text und oftmals kleinerem Motiv auf der anderen Seite. Wunderbar, „Theater? Oder Leben?“ überhaupt in den Händen halten und darin blättern zu können.
Für eine vollständigere Ansicht muss man also entweder einen dreistelligen Betrag für eine antiquarische Ausgabe hinlegen („Ein autobiographisches Singspiel in 769 Bildern“) oder nach Amsterdam reisen, wo aktuell erstmalig der komplette Werkzyklus zu sehen ist. Immerhin virtuell geht das auf den Seiten des Joods Historisch Museum dauerhaft.
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