: Unter dem Akazienbaum
Lässt sich daraus, dass die Leute weniger aktuelle Bücher kaufen, tatsächlich schließen, dass sie weniger lesen? Eine persönliche Lesekrise und die allgemeine Verkaufskrise von Romanen – eine Art Rückblick auf das Literaturjahr 2017
Von Dirk Knipphals
Vielleicht sollte er über Akazien schreiben. Das hat er 2017 viel gemacht. Den Akazienblättern zugeschaut. Den sanft im Wind schaukelnden Akazienästen. Und der Horde Sperlinge, die die Akazien vor seinem Fenster als Spielplatz benutzten.
Hinter dem Fenster steht sein Lesesofa. Dort hat er auch dieses Jahr viel gelegen. Acht Monate hatte er Auszeit von der Arbeit, und er hatte sich, dann doch bildungsbürgerlich geprägt, viel vorgenommen. Proust noch einmal ganz durch. Die Rabbit-Romane von John Updike im Original. Oft lag ein aufgeschlagenes Buch auf seinem Bauch. Er mochte das. Er lag und schaute. Was er aber kaum tat, war – lesen. Statt auf den Klang der Sätze horchte er auf den Atem des im Zimmer nebenan ins Leben findenden Kindes.
Um die Wahrheit zu sagen, er hat schon lange nicht mehr so wenig gelesen wie in diesen acht Monaten, seit seinem Zivildienst nicht mehr (als die Realität eines Behindertenwohnheims in sein Abiturientenbewusstsein wie ein Schock gefahren war und ihm die Bücher plötzlich papiernen vorgekommen waren). Dass er nicht las, lag nicht an dem Kind. Zeit und Raum waren da. Es lag an ihm. Er brauchte in dieser Zeit die Bücher nicht.
Dann waren die acht Monate um, das Kind war in der Kita, und er ging wieder ins Büro. Es gab, was es immer gibt: Neuigkeiten. Die Verkäufe der Romane gehen zurück, hieß es. Bestseller gebe es weiterhin, aber die mittleren Verkäufe seien gesunken. Und in der Zeit, als die Akazie ihre Blätter verlor, nahm ihn eine Verlegerin beiseite. Ob er gehört habe? Die Vorschüsse für Autoren gingen geradezu in den Keller. Damit war die Romanverkaufskrise amtlich. Daran, dass sich Romane im Schnitt gut verkaufen, glaubt niemand mehr; man glaubt nur noch an die Ausnahmen von dieser Regel.
Sich als zerstreut erleben
So hat es 2017, während er so wenig gelesen hatte wie selten zuvor, also auch eine ausgewachsene Literaturkrise gegeben. Natürlich, die literarische Welt drehte sich immer weiter. Herbstprogramm. Lesungen. Buchmesse. Doch ein Stachel ist seitdem da. Warum hat er selbst in diesen acht Monaten nicht gelesen? Warum lesen die anderen nicht mehr?
Felicitas von Lovenberg, die frühere FAZ-Literaturchefin und jetzige Piper-Verlegerin, hat im Radio gesagt, die Leute läsen deshalb nicht, weil Facebook und Netflix ihnen die Zeit stehlen würden; sie sollten aber mehr lesen, um sich selbst als nicht so zerstreut zu erfahren. Stimmt das? Oder ist das nicht nur die Ausrede, auf die sich alle einigen können, um dem eigenen bildungsbürgerlichen schlechten Gewissen nicht gestehen zu müssen, dass einen aktuelle Romane gar nicht so sehr interessieren?
Sein eigenes Nichtlesen trifft es jedenfalls nicht. Es war kein defizitäres Nichtlesen, es war ein Nichtlesen aus der Fülle heraus. Die Tage waren angefüllt mit Routinen und kleinen Entdeckungen. Es gab so viele interessante Geschichten, im Alltag, in der Nahwelt, in den Beziehungen, in der Innenwelt (auch auf Netflix, klar). Für andere Lebens- und Weltentwürfe gab es schlicht keinen Platz.
Und überhaupt, „als nicht so zerstreut erfahren“ – gerade in seinen besonders intensiven Leseerfahrungen hat er sich immer als zerstreut wahrgenommen, das war ja auch das Gute daran. Zuletzt etwa bei Thomas Melles bipolaren Erzählungen „Die Welt im Rücken“. Oder Heinz Strunks „Goldenem Handschuh“, danach hat er sich erst einmal wieder neu zusammensetzen müssen. Das richtige Lesen ist manchmal ein Tanz, manchmal ein Spiel, manchmal ein Spaziergang, manchmal ein „ernstes Wort von Mensch zu Mensch“ (Kafka), manchmal eine Expedition, manchmal aber auch ein Kampf. Das alles passte aber in diesen acht Monaten nicht zu seinem Leben.
Nun wird man sagen, dass er auch eine Ausnahme darstellt. Jahrelang berufsbedingt im Grunde viel zu viel gelesen, ein Leben mit waghalsigen Bücherstapeln unter dem Schreibtisch und neben dem Lesesofa. Aber was die Intensität des Lebens betrifft, ist er eben keine Ausnahme. Die Leben, die die Menschen führen, sind komplexer geworden, ambivalenter, vielleicht anstrengender, vielleicht auch aufregender. Vielleicht ist es da schwerer geworden, immer das rechte Buch zu finden. Vielleicht treffen viele aktuelle Romane dieses komplexe Leben auch einfach nicht.
Was Felicitas von Lovenberg nicht bedenkt: Ihre Ideen sind längst zum Grundmotiv des deutschen Buchmarketings geworden. Lesen als Erholung, Lesen als „Zeit für dich selbst“. Und trotzdem kaufen die Leute viele Bücher nicht. Vielleicht sind viele Leser für Lesen-als-Wellness-Programme auch längst zu eigensinnig und zu klug.
Wo er gerade dabei ist: Vielleicht reicht der Begriff von Neuheit, den die Branche zweimal im Jahr behauptet, auch einfach nicht. „Frische Leseware eingetroffen“ – wie empört er war, als er diesen schrecklichen Werbespruch irgendwo gelesen hat. Vielleicht muss man (die Kritik, die Literaturhäuser, aber auch die Verlage selbst) den Leuten besser erzählen, was jeweils wirklich neu an dem jeweiligen Buch ist. Was es zur Genüge gibt, sind eingeführte Skripts und Rollen. Die Debütantin der Saison. Der inzwischen weise alte Mann. Der smarte Mover. Die sensible Alltagsbeobachterin. Der Immerweitermacher. Interessant an dem jeweiligen Buch ist doch aber gerade, wie es von solchen Mustern immer auch abweicht. Vielleicht ist das wirklich die Aufgabe: nicht die Muster perpetuieren, sondern die Abweichungen.
Was hat ihn in diesen acht Monaten dann doch erreicht? Was hat er letztlich doch vermisst? Da gab es diesen zweiten Satz in Sven Regeners Roman „Wiener Straße“, seitenlang, ein Sprachkunstwerk für sich; dafür braucht man schon die Bücher, um auf so etwas Verblüffendes zu treffen. Oder da war diese überraschende Wendung, dass die Heldin in Fatma Aydemirs Roman „Ellbogen“ gar nicht so sehr an ihrer beruflichen Ausgrenzung verzweifelt, sondern daran, nicht am Türsteher vorbei ins Berghain zu kommen. Aufleuchtende Details, die Spaß bringen und/oder von der Gegenwart erzählen!
Was ihn endgültig wieder ins Lesen gezogen hat, war zum Beispiel der Roman „Tyll“ von Daniel Kehlmann. Weil es ein guter Roman ist. Und weil er, das ist vielleicht genauso entscheidend, Türen öffnet in die unübersehbar großen und vielfältige Räume, die die Literatur bietet. Noch einmal in den „Simplicissimus“ hineinsehen, noch einmal die Schlachtbeschreibungen in „Krieg und Frieden“ aufschlagen, noch einmal postapokalyptische amerikanische Romane lesen.
Noch so eine Frage: Lässt sich daraus, dass die Leute weniger aktuelle Romane kaufen, tatsächlich schließen, dass sie weniger lesen? Erstens gibt es ja Bucherfolge. Knausgard. Meyerhoff. Ferrante. Zweitens gibt es ältere Bücher. Bekannte von ihm behaupten sowieso, es sei klüger, immer die mindestens zwei Jahre alten Bücher zu lesen, dann habe sich die Spreu vom Weizen getrennt. Und in seiner Filterblase wurde 2017 zum Beispiel sehr viel „Jahrestage“ von Uwe Johnson gelesen, inspiriert vom 50. Jubiläum der erzählten Zeit und animiert und angeleitet von diesem schönen FAZ-Blog von Birte Förster. Auch vor diesem Hintergrund muss man die Verkaufszahlen für neue Romane sehen.
Von einer der schönsten Szenen des Literaturjahrs 2017 muss er unbedingt noch erzählen: von Thomas Gottschalks Auftritt beim letzten „Literarischen Quartett“. Klar, dachte man, Gottschalk, wird er sich halt durchwitzeln. Denkste. Erst legt Thomas Gottschalk eine akkurate Inhaltsangabe von Peter Handkes neuem Roman „Die Obstdiebin“ hin, dann findet er die von nun an klassische Replik aller Handke-Leser. Auf die Beschwerde von Christine Westermann, in dem Buch passiere gar nichts, sagt er: „Aber mit mir ist beim Lesen etwas passiert.“ Dieser Satz bringt tatsächlich meterweise Handke-Besprechungen auf den Punkt.
Das Schöne daran: dass Thomas Gottschalk die Erwartungshaltungen unterläuft. Man braucht kein Studienrat zu sein, um Handke etwas abzugewinnen.
Ach, das wäre doch ein gutes Vorhaben für 2018: daran mitzuarbeiten, die Bücher von ihren Rollen zu befreien.
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