: Von Führendenund Folgenden
Das Ballhaus Walzerlinksgestrickt feiert 20-jähriges Bestehen. In der Tanzschule für ein offenes Publikum wird die Lust an schwierigen Schrittkombinationen mit Humor gepflegt
Von Katrin Bettina Müller
Ein Motiv, mit Mitte fünfzig eine Tanzschule zu besuchen, oder besser eine Legitimation für das Vergnügen war die Behauptung: Tanzschritte zu erlernen stützt das Erinnerungsvermögen. Fein, dachte ich mir im Anfängerkurs, die Grundschritte waren noch leicht zu merken. Aber kaum sind wir fortgeschritten, haben im Langsamen Walzer noch die Linksdrehung und den Zögerwechsel gelernt, in der Rumba die Figur Sweetheart, packt die Gruppe die schiere Verzweiflung. Wisst ihr noch, was wir letzte Woche gelernt haben?, fragen sich kurz nach der Begrüßung viele der Teilnehmenden. Wir schauen unsere Füße an, wir sagen die Namen von Figuren auf, wie die Schrittkombinationen genannt werden, aber noch finden Hirn und Körper nicht zusammen.
„Macht euch nichts draus, dafür bin ich ja da“, tröstet Gert, der Tanzlehrer, und wischt die kollektiven Seufzer beiseite. Es ist äußerst beruhigend, wie er schaut, was wir können, und die Stunde dem anpasst. Sodass fast jedes Mal doch irgendwann das Vergnügen einsetzt, zu spüren, wie die Füße den Weg schon finden und den Körper nach rechts und links tragen, in die Beschleunigung, um die Kurve, wunderbar.
„Wir haben den Rhythmus im Blut“, so wirbt die Tanzschule Ballhaus Walzerlinksgestrickt. Und, ja, weil viele sich wünschen, das auch von sich behaupten zu können, ist die Tanzschule sehr beliebt. Am 18. November feiert sie mit einer Gala ihr 20-jähriges Bestehen in ihren Sälen in der früheren Habelschen Bierbrauerei auf dem Tempelhofer Berg. Die Karten dafür wurden verlost. Denn als man sie bestellen konnte, hatten einige Ballhausfans gleich für große Gruppen von 20 Leuten gebucht. Weil die Gründer aber eine Mischung von ehemaligen und aktuellen Kursteilnehmern wollten, kamen sie schließlich auf die Idee mit der Verlosung.
Die Gründer, das sind Ulrike Albrecht-Balzer und Jojakim Balzer. Ulrike ist die große Zeremonienmeisterin des Hauses, begrüßt die Kursteilnehmer wie Gäste und alte Freunde mit einem strahlenden Lächeln. Vor etwas mehr als 20 Jahren, da war er noch hauptberuflich mit Jura beschäftigt und sie als Physiotherapeutin unterwegs, ist bei beiden die Idee von einer eigenen Tanzschule entstanden. Beide waren in den 1980er Jahren nach Berlin gekommen, sie aus Freiburg, er aus Kiel, beide besuchten das SO36 und die Tanzschule Bebop. Diese Kreuzberger Adressen boten eine alternative Bühne für Standardtänze (Wiener und Langsamer Walzer, Tango, Slowfox) und Latein (Cha-Cha-Cha, Rumba, Samba), die sich bewusst abgrenzte von dem Mief der Benimmregeln und klassischen Geschlechterrollen in den Tanzschulen alten Stils.
Es war oft eine schwul-lesbische Szene, die die Tänze aus ihrer konventionellen Ecke herausholte, aus dem Tanzstundenmilieu von Abiturienten und der peinlichen Suche nach einem Tanzpartner, aus dem Geruch von ADAC-Bällen und dem Zementlächeln der Turniertänzer. Führen und Folgen beim Tanzen schien auf einmal nicht mehr festgeschrieben auf die Rollen von Mann und Frau. In den siebziger Jahren, mit den breiten Angebot an Disco, wäre ich zum Beispiel nie auf die Idee gekommen, Standardtänze lernen zu wollen, schienen sie doch Form gewordene traditionelle Rollenbilder. Aber das hat sich seit den 1980er Jahren verändert. Im Walzerlinksgestrickt redet man deshalb auch stets nur von den Führenden und den Folgenden, nicht von Frauen und Männern.
Ulrike und Jojakim hatten Mitte der 90er zunächst eine „fliegende Tanzschule“. Sie unterrichtete Frauen, die mit Frauen tanzten, er Männerpaare, in wechselnden Räumen. Dann gab es schwul-lesbische Tanzabende am Freitag, samstags für Heteros. Heute ist das Publikum eine sehr entspannte Mischung.
1997 ist zum Stichjahr für die Geschichte des Ballhauses Walzerlinksgestrickt geworden, weil Ulrike und Jojakim damals einen Existenzgründerwettbewerb gewannen und damit – und mit einem Zuschuss von Jojakims Großmutter – die Mittel erhielten, das seit 1960 leer stehende Brauhaus in eine Tanzschule umzubauen.
Vor 100 Jahren, da war Berlin eine Stadt voller Ballhäuser. Manchmal existieren die Räume noch – mit anderer Funktion, und oft kann man nur noch darüber lesen. Ulrike weiß viel über die verlorene Ballhauskultur. Daran wieder anzuknüpfen, das war ein Traum von ihr, den sie nicht nur mit der Tanzschule, sondern auch als Organisatorin von Bällen verwirklicht hat. Die hohen Räume im ehemaligen Sudhaus der Brauerei, die schönen Kappendecken und Bogenfenster boten dafür eine gute Voraussetzung.
Der letzte von mittlerweile vier Tanzsälen wurde vor zwei Jahren angebaut, nur durch eine Glaswand vom großen Saal getrennt. Es macht Spaß, zwischen dem Lernen von Rumba und Slowfox hinüberzuschielen, wie andere sich drehen und mühen. Derzeit unterrichten 15 TanzlehrerInnen am Ballhaus, ungefähr 1.000 Lernwillige kommen jede Woche hierher, um Beinen und Hüfte mal etwas Neues beizubringen.
In London und New York haben sich Ulrike und Jojakim fortgebildet und recherchiert, wie das Unterrichten von Tanz für Erwachsene am besten geht. In New York packte sie der Salsa, die enge Verbundenheit von Bands und Tänzern, die sich gegenseitig inspirieren. Auch in England lernten sie viel: Dort gibt es eine größere Social-Dance-Tradition und ein ausgebautes Wissen, wie man Bewegungen und Schrittfolgen aufschlüsselt, in kleine Bausteine zerlegt, stets vermeidend, die Lernenden zu überfordern. Die Lust an der Bewegung stets im Auge zu behalten, das gilt als das Wichtigste. Die Lehrenden der Schule tauschen sich regelmäßig auf einer Tanzlehrerkonferenz aus. Selbst der Humor, mit dem man den Tanzenden auf die Sprünge hilft, scheint ein bisschen britisch. „Auch wenn Ihr zwei linke Füße habt: Benutzt trotzdem einen nach dem anderen!“, ist ein O-Ton der Schrittvermittler, festgehalten in einer Festschrift zum Jubiläum.
Als Erich und ich vor mehr als fünf Jahren hier anfingen, war ich – wie nicht wenige Frauen – überzeugt, besser tanzen zu können als er, mir Schrittfolgen schneller zu merken. Ungeduld mit dem Tanzpartner, Ärger über die Abhängigkeit vom anderen – damit haben die Lehrenden ständig zu tun. Auf raffinierte und liebevolle Weise nehmen sie dem die Spitze und vermitteln.
Unser Tanzlehrer Gert etwa wirft nie jemandem einen Fehler vor. Er erzählt dann nur gerne von Paaren in anderen Kursen, wie da X überzeugt ist, nur von Y am Ausbruch ihres wahren Tanztalents gehindert zu werden. Man lacht und ahnt schon, in welchem Teil der Geschichte man sich unauffällig selbst erkennen kann.
Bei mir und meinem Führenden ist es inzwischen so, dass mir in seinem Arm viel mehr vom Tanz wieder einfällt als ohne ihn. Das sind kleine Glücksmomente, ein Anfang vom Gefühl des Schwebens, plötzlich mehr zu können, als einem selbst bewusst ist. „Die Führenden haben die Aufgabe, die Folgenden gut aussehen zu lassen. Und umgekehrt.“ Das ist so eine der Weisheiten, die man hier lernt.
Ballhaus Walzerlinksgestrickt, Am Tempelhofer Berg 7d
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