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Kolumne Fremd und befremdlich„Bei euch im Osten“

Kolumne
von Katrin Seddig

In Hamburg schnitt die AfD so schlecht ab wie in keinem anderen Bundesland. Soll mich das trösten? Gedanken einer in Märkisch-Oderland geborenen.

An vielen Stadträndern gibt es solche Viertel: Wo es ein bisschen aussieht wie im Osten Foto: dpa

A lle schreiben über die Wahl. Alle reden über die Wahl. Und ich kann mich in andere Dinge vertiefen. Ich kann Kriminalromane lesen, Filme gucken, ein paar Gin-Tonic trinken oder auch eine Liebesgeschichte schrei­ben. Aber immer und immer wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken: „Es ist ja nicht zu ändern.“

Und dann weiß ich, und das ist so ähnlich wie, wenn man Liebeskummer hat und sich abzulenken versucht. Aber durch alle anderen Gedanken hindurch zieht sich immer nur der eine: Die AfD zieht in den Bundestag ein. Ich wollte keine Kolumne zur Wahl schreiben. Die Wahl ist kein regionales, norddeutsches Thema. Aber worüber soll ich schreiben, wenn mich gerade heute fast gar nichts anderes interessiert als die Wahl? Ich versuche, mich zu trösten. Ich versuche, etwas zu banalisieren, was nicht zu banalisieren ist.

Ich las vorige Woche „Bei uns in Auschwitz“ von Tadeusz Borowski. Ich würde es allen empfehlen, die glauben, dass bestimmte Dinge „irgendwann auch mal vorbei“ sein müssen. Dass Schuld sich nicht endlos übertragen lässt, von Generation zu Generation zu Generation.

Und ich dachte, ich würde gerne diesen Menschen sagen, dass es egal ist, ob dein Urgroßvater ein Nazi war oder nicht. Es liegt die Schuld nicht in der Verwandtschaft, sie liegt im Menschlichen begründet. Menschen waren in der Lage, anderen Menschen so etwas anzutun. Menschen wären auch wieder dazu in der Lage, davon bin ich fest überzeugt. Menschen sind nicht gut. Das Böse ist in jedem von uns, und damit wir das nicht vergessen, damit wir uns immer daran erinnern, was aus Abwertung anderen Menschen gegenüber entstehen kann, dürfen wir nicht vergessen, was in der Vergangenheit passiert ist.

Die AfD ist nicht die NSDAP. Aber die AfD bietet den Menschen einfache Lösungen. Sie sagt ihnen, dass sie aufgrund ihrer Nationalität ein größeres Anrecht auf das Leben in diesem Land, auf Sozialleistungen hätten, als andere Menschen. „Mir gehört das. Das ist meins!“, schreit der kleine Junge. „Ich hab’ das zuerst gehabt. Meine Eltern haben das gekauft!“

Es sind dieselben Menschen, die nicht an die Vererbung von Schuld glauben. Vererbt sich Schuld? Ich weiß nicht. Aber wenn sich Schuld nicht vererbt, warum sollen sich dann soziale Vorrechte vererben? Warum finanzielle Vorteile? Warum soll sich überhaupt etwas vererben lassen? Warum sollen wir das Geld unserer Eltern erben können, wenn wir nicht die Schuld unserer Eltern erben brauchen?

In Hamburg hat die AfD so schlecht abgeschnitten wie in keinem anderen Bundesland. Soll mich das trösten? In meinem Geburtskreis, in Märkisch-Oderland, in Brandenburg, hat die AfD über 20 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen. Wenn ich mit meiner Mutter rede, bei ihr am Esstisch, in ihrem Plattenbau, in den sie erst im vergangenen Jahr gezogen ist, nachdem mein Vater starb, dann fällt es mir schwer, nicht zu sagen: „Bei euch hier im Osten.“ Bei euch hier im Osten, da sieht es immer noch nach Osten aus.

Aber kürzlich dachte ich, als ich durch ein Hamburger Viertel ging: „Hier sieht es auch aus wie im Osten.“ Es gibt in fast jeder Großstadt solche Viertel, an den Rändern, in den Kleinstädten. Es ist sauber, wo meine Mutter wohnt, eine Kasernenstadt. Die Plattenbauten sind in Pastellfarben gestrichen, die Balkone bepflanzt. Es gibt ein neues Einkaufszentrum, da haben sie sogar Biosachen. Meine Mutter kauft die ein. Sie gibt ihre Rente für Biolebensmittel aus. Ich kann nicht sagen, es tut mir leid, dass du hier leben musst, denn sie lebt ganz gerne dort. Sie hat nette Nachbarn. Ich weiß nicht, was man tun soll.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ ist kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen.

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3 Kommentare

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  • Die wackeren Bürger der "freien und Hansestadt Hamburg" wählten 2001 die "Partei Rechtsstaatlicher Offensive" (Schill-Partei) mit 19,4% in die Bürgerschaft und in den Senat.

    Kann man ja auch stolz drauf sein, nicht?

  • „In Hamburg schnitt die AfD so schlecht ab wie in keinem anderen Bundesland...“

     

    Auf das Ergebnis kann man können die Einen stolz sein und die Anderen neidisch. Warum war bloß Berlin schlechter?

     

    Also nun, sollen wir alle ein wenig mehr von Hamburg lernen!

     

    Und man sollte die Rote Flora daraufhin mit mehr Respekt behandeln! Es sollten die Politiker auf Menschen dort zugehen und gemeinsam ins Dialog kommen.

  • Sag ich doch: Es gibt ihn schon, den Neuen Menschen. Man merkt es bloß nicht so, weil er – entgegen der Erwartung seiner ideologischen Väter – gar kein Totalitarist (mehr) ist.

     

    Katrin S. scheint mir ein Exemplar zu sein. Unter ihrem richtigen Namen kann sie schreiben, dass sie aus dem Osten kommt, dass ihre Mutter „in der Platte“ wohnt und dass sie nicht „weiß [...], was man tun soll.“ Das alles ist neu.

     

    Ich weiß zwar nicht, ob Lenin sich das so gedacht hat, aber ich weiß, dass mir das wurscht sein kann. Die Frage ist ja schließlich nicht: Hatte Lenin recht? Die Frage ist: Was heißt es, ein neuer Mensch zu werden?

     

    Ich denke, man muss nicht Gott ähneln, um ein neuer Mensch zu sein. Man muss auch nicht Alphawolf unter Wölfen, Schaf unter Schafen oder Cyborg unter Cyborgs werden. Man muss nur Mensch unter Menschen werden wollen. Dazu muss man allerdings wissen, was einen Menschen ausmacht.

     

    Für mich ist es die Fähigkeit zur Reflektion (i.S. der Definition der Programmierer). Wir Menschen könne verstehen, dass jeder von uns

    a) das Recht haben sollte, mal etwas nicht (genau) zu wissen,

    b) das Recht haben sollte, das Gegenteil zu glauben und

    c) verstehen kann, was daraus folgt.

     

    Es folgt:

    1. Wahrheit ist nicht privatisierbar. Sie ist universell oder gar nicht.

    2. Die Schuld, die aus dem Irrtum entsteht, ist immer konkret und persönlich, genau wie alle Privilegien, die auf Verdiensten gründen. Beides ist nicht (ver-)erbbar.

    3. Es gibt keinen legitimen Anspruch auf ein unmögliches Erbe. Jeder Versuch, es gewaltsam zu verteidigen, ist ungerechtfertigt.

     

    Wieso man Geld (ver-)erben können sollte, wenn man die daran klebende Schuld nicht mitzuerben braucht, ist in dem Kontext eine sehr gute Frage. Eine, die zu stellen viel vernünftiger ist, als die Behauptung, das sei nun einmal so und es sei auch schon immer so gewesen.

     

    Merke: Wer keine Veränderung, keinen „neuen“ Menschen will, der will das Ende der Geschichte. Ich will es nicht.