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Kakerlaken für fünf Cent

REPORTAGE So spannend wie ein Kriminalroman: Der Journalist Philippe Pujol beschreibt in „Die Erschaffung des Monsters“ das Elend in den Armenvierteln Marseilles und die Korruption der politischen Elite

von Hanna Klimpe

Kinder, die Kakerlaken sammeln und für fünf Cent verkaufen, rettungslos marode Häuser, Jugendliche, die ihre lebensgefährlich gepanschten Drogen sofort selber runterschlucken – Philippe Pujols Reportage „Die Erschaffung des Monsters – Elend und Macht in Marseille“ steht den Elendsbeschreibungen eines Emile Zola aus dem 19. Jahrhundert in nichts nach. 2014 veröffentlichte der ehemalige Journalist der kommunistischen Tageszeitung La Marseillaise die Reportageserie „Quartiers Shit“ über die sogenannten „zones urbaines sensibles“ – der politisch korrekte Ausdruck für Banlieues. Von den 850.000 Einwohnern Marseilles wohnen über 300.000 in den armen Vierteln im Norden und im Stadtzentrum.

Korrupte Stadt

Pujol beschreibt eine hauptsächlich maghrebinisch und komorische Parallelgesellschaft, in der praktisch niemand einer legalen Arbeit nachgeht, Lehrer heilfroh sind, wenn sie ihre Schüler endlich als hoffnungslose Fälle der Schule verweisen können und sich die Gangster unliebsamer Kollegen durch den sogenannten Barbecue-Mord entledigen: Nach dem Erschießen wird die Leiche in einem alten Auto verbrannt, um die Spuren so lange wie möglich zu verwischen.

Der Mörder des 22-jährigen Kader hat sich nicht so viele Gedanken gemacht: Der Sohn eines algerischen Einwanderers hatte eine typische Karriere eines Kids aus den quartiers nords hingelegt: Einbrüche, Überfälle, erster Gefängnisaufenthalt mit 13 Jahren, der Wunsch nach Größerem, Abspaltung vom Bandenchef – und dann liegt Kader irgendwo erschossen herum. Kaders Vater Farid sucht blind vor Wut nach dem Täter und wird einige Jahre später selbst ermordet.

„Solange sie sich gegenseitig umbringen, ist es nicht schlimm“, soll der seit 22 Jahren amtierende Bürgermeister Marseilles, Jean-Claude Gaudin, die Gewalt in den Armenvierteln Marseilles einmal kommentiert haben. Dem Klientelismus, also dem auf Gefälligkeiten-Tausch und Abhängigkeit beruhenden System der politischen Elite, widmet Pujol den zweiten Teil seines Buches, das 2015 in Frankreich und jetzt auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde.

Pujol macht einen Lokaljournalismus, wie er in Zeiten von Rumpfredaktionen immer schwieriger wird: Über Jahre hinweg begleitet er seine Protagonisten, gewinnt ihr Vertrauen, knüpft Verbindungen, sodass sich „Die Erschaffung des Monsters“ fast wie ein Kriminalroman liest. Für „Quartiers Shit“ bekam er 2014 den Prix Albert Londres, den renommiertesten Journalistenpreis Frankreichs.

Pujol, 1975 in Paris geboren, ist in Saint-Mauront aufgewachsen. Das zentral gelegene dritte Arondissement Marseilles gilt als das ärmste Viertel Frankreichs. Er studierte zunächst Biologie, dann Informatik, fand die Welt der New Economy aber befremdlich und schrieb sich noch einmal für Journalismus ein. Bei La Marseillaise begann Pujol zunächst als Redakteur im Panorama. 2014 veröffentlichte er „French Deconnection“ über den Drogenhandel in Marseille, nach „La fabrique du monstre“ erschien dieses Jahr „Mon cousin le fasciste“ über die Beziehung zu einer der zentralen Figuren der extremen Rechten in Frankreich, seinem Cousin Yvan Benedetti. Sein nächstes Buch soll ein Roman über Korsika werden, woher seine Familie kommt. Und im Anschluss soll es eine Fortsetzung von „La fabrique du monstre“ geben.

Irrationale Stadt

Marseille gilt schon immer als korrupte Stadt mit massiven sozialen Problemen, da haben auch die Gelder und die Imagekampagne, die im Rahmen der Kulturhauptstadt 2013 geflossen sind, nur wenig geholfen. Trotz aller Gewalt und Armut, und trotz des jahrzehntelangen politischen Stillstandes schwärmt Pujol bedingungslos von seiner Heimatstadt: „Marseille ist eine Stadt, die nichts versteckt, alles ist sichtbar, nichts wird verleugnet“, sagt er. „Es ist eine Stadt, die anerkennt, dass es schwierige Viertel gibt.“

Im Gegensatz zu Städten wie Paris oder Lyon gebe es arme Viertel auch im Zentrum der Stadt, Arme und Reiche lebten in nächster Nähe zueinander. „In meinen Augen ist das eine Stärke. So kann ich Dinge erzählen, die man woanders nicht erzählen kann – auch wenn sie dort genau so stattfinden.“ Und Marseille sei eine Stadt, die es als Einwandererstadt geschafft habe, dass ihre Bewohner sich bedingungslos mit ihr identifizieren: „Die zugewanderten Gruppen, seien es die Italiener, die seit den 1960er-Jahren da sind, oder die letzte Welle der Komoren – alle benutzen den Marseiller Akzent und Ausdrücke, die man nur hier findet“, sagt Pujol. „Und diese Ausdrücke werden von der armen Bevölkerungsschicht genau so benutzt wie von den Reichen.“

Deshalb nennt Pujol Marseille eine „irrationale Stadt“: Einerseits Ghettobildung und die ökonomische Exklusion von fast der Hälfte der Bevölkerung, andererseits eine explosive soziale Durchmischung und Identifikation mit einer Stadt, von der man schlecht sagen kann, wer oder was eigentlich repräsentativ für sie sein soll – wenn nicht ihre Widersprüchlichkeit.

Der Kampf gegen den Klientelismus indes scheint aussichtslos: „Alle erkennen an, dass Marseille eine korrupte Stadt ist“, sagt Pujol. „Es gibt kaum einen Politiker, der nicht dazu steht, Klientelist zu sein. Alles, was sie sagen, ist: Wie sollte ich es anders machen?“ Pujol erkennt keinen politischen Willen, die Situation in den armen Vierteln zu verändern. „Das Elend dort ermöglicht den politischen Eliten, sich an der Macht zu halten. Arme Leute sind leicht zu kaufen.“ Zahlreiche Finanzskandale im gemeinnützigen Sektor haben die Stadt in den letzten Jahren erschüttert, unter anderem um die Sozialistin Sylvie Andrieux.

Politisch nicht gewollt

„Wenn man den Menschen in den Banlieues eine Chance geben will, nutzen keine urbanistischen Regelungen wie Renovierungen oder Umsiedlungen“, glaubt Pujol. Man müsse sie ins ökonomische System integrieren. „Welche Berufe ergreifen die Leute dort, wenn sie überhaupt einer legalen Tätigkeit nachgehen? Sie sind Security-Männer oder im besten Fall Streetworker, beides Jobs, mit denen sie das Ghetto nicht verlassen.“

Was Pujol bei den Jugendlichen aus den Städten aber erkennt, ist ein unternehmerischer Geist. „Da muss man ansetzen. Gerade die jungen Leute haben nicht mehr die kommunistische Haltung der Arbeiter, schon allein, weil es in den Fabriken keine Arbeit mehr gibt.“ Dafür brächten sie kreative Energie mit, mit denen sie schon jetzt ihre – allerdings zumeist illegalen – Geschäfte betreiben. „Man müsste sie so ausbilden, dass sie ihre eigenen kleinen Unternehmen gründen können“, findet Pujol. „Aber das ist politisch nicht gewollt.“

Philippe Pujol: „Die Erschaffung des Monsters. Elend und Macht in Marseille“, Hanser Berlin, 304 S., 24 Euro

Di, 26. 9., 19.30 Uhr, Literaturhaus Hamburg, Schwanenwik 38

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