: „Ich habe Füße, keine Wurzeln“
ÜBERLEBEN Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger kam als Kind ins KZ. Ein Gespräch über rettende Verse
■ Vor 1945: Ruth Klüger wurde am 30. Oktober 1931 in Wien geboren. Als Kind wird sie mit ihrer Mutter ins KZ Theresienstadt deportiert, später nach Auschwitz und Christianstadt. Dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen entkommt sie.
■ Nach 1945: Klüger emigriert nach New York, sie heiratet den Historiker Werner Angress. Das Paar bekommt zwei Söhne. Nach der Scheidung wird sie Germanistin und lehrt als Professorin in Princeton und Irvine, Kalifornien. Ruth Klüger lebt dort und in Göttingen.
GESPRÄCH FELIX ZIMMERMANN
Wien, im Oktober. Ruth Klüger besucht ihre Geburtsstadt. Geboren 1931, 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert, später nach Auschwitz und Christianstadt, Groß-Rosen. Auf dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen gelang ihr die Flucht. Später wurde sie Literaturwissenschaftlerin in den USA. Eben, beim Jüdischen Filmfestival, wurde der Dokumentarfilm über ihr Leben gezeigt. Danach wurde Klüger beklatscht, jetzt hat sie Hunger. In einem Restaurant gegenüber dem Kino bestellt sie Rotwein und Backhendlsalat. Sehr wienerisch.
sonntaz: Frau Klüger, im Film gibt es eine Szene, in der Ihr jüngerer Sohn mit seiner Familie nach Wien kommt. Sie wollen ihm Liptauer schmackhaft machen, diesen österreichischen Brotaufstrich aus Frischkäse, Paprika und Kümmel. Ihr Sohn kann da so recht nichts mit anfangen …
Ruth Klüger: Ja, ja, ich musste ihm erklären, was das ist, und ich hab’s nicht richtig erklärt, weil ich so begeistert war, den Liptauer wieder zu essen nach all den Jahren.
Hat er ihn denn dann probiert? Ja, natürlich hat er ihn probiert. Aber ich glaube, er war nicht so begeistert wie ich.
Der Liptauer, was ist der für Sie?
Na ja, das ist eine kulinarische Kostbarkeit aus der Kindheit. Es gibt eigentlich nicht so wahnsinnig viele Sachen, die so sind. Der Himbeersaft vielleicht, den wir manchmal getrunken haben. Oder der Schlagobers, den man im Kaffeehaus bekommen hat, wenn man mit den Eltern dort war. Solche Sachen. Aber der Liptauer war etwas besonders Gutes. Und es kommt noch etwas hinzu: Susi, meine Pflegeschwester, die inzwischen verstorben ist, das Mädchen, mit dem wir dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen entkommen sind, hat in Amerika gelegentlich Liptauer gemacht. Für mich ist der Liptauer teilweise die Susi, mit der ich an sich wenig gemeinsam hatte, außer eben diese Jahre, und das war total bindend. Das war Familie.
Da sind nicht nur Erinnerungen an Liptauer, an Himbeersaft und Schlagobers, sondern auch an die Nazis in Wien, mit elf kamen Sie ins KZ.
Aber diese Erinnerungen an Liptauer und Himbeersaft gehen der Erinnerung an Nazi-Europa voraus. Das sind die allerersten Anfänge, ich war keine sieben, als Hitler nach Österreich einmarschierte, also beim Anschluss. Und was nachher kam, ist eine ganz andere Episode.
Die Kindheit, sagen Sie im Film, ist nicht nur eine Episode im Leben eines Menschen, sondern die Wurzel. Wie kann man es ertragen, wenn sie so zerrissen war?
Ja, aber es ist die Kindheit, es gab keine andere. Das ist, was ich habe. Und ich kann mich nicht in eine andere hineindenken. Man hat sein Leben zusammengebastelt auf der Basis dieser Kindheit. Und es hat überhaupt keinen Sinn, sich vorzumachen, dass das weggewischt werden kann. Das war’s. Und gut oder schlecht: Es war, wie es war. Ich rechne mein Leben immer in sieben Jahren. Mehr oder minder waren die ersten sieben Jahre Liptauer und Himbeersaft. Und danach die sieben Jahre, 38 bis 45, das sind die Hitler-Jahre. Die reichen von der Isolation in Wien bis zu der Flucht aus dem Lager in die Freiheit. Es ging weiter mit den Siebenerschritten.
Bis heute?
Vor drei Jahren, kurz bevor ich 78 Jahre alt war und dachte, ich bin am Ende meines Lebens, bin ich am Herzen operiert worden – und jetzt rechne ich damit, dass ich bis 84 Jahre lebe.
Wenn Sie heute durch Wien gehen: Wie wirkt das nach?
Ganz merkwürdig. Wien strahlt schon diese Nazi-Vergangenheit für mich aus. Das ist einfach in den Steinen. Da ist sehr viel, was mich immer wieder daran erinnert, wenn ich hier bin. Und andererseits habe ich Freunde in Wien und werde beachtet, das macht natürlich etwas aus. Ich habe keine Familie hier, das fehlt total, und das sollte man eigentlich haben, wenn man aus einer Stadt kommt.
Zwei Wiens, das gute und das böse?
Das eine läuft neben dem anderen her und trifft nicht aufeinander. Und wenn da ein Widerspruch ist, dann lebt man halt mit diesem Widerspruch. Ich könnte mir nicht vorstellen, permanent in Wien zu wohnen. Ich glaube, dann würde das wie Schwefelschwaden aufsteigen und mich ersticken. Schon im Alter von sechs Jahren wollte ich weg aus Wien. Ich bin dann weggekommen – in eine falsche Richtung.
Wie oft sind Sie heute in Wien?
Wenn es sich ergibt. Eigentlich in letzter Zeit jedes Jahr. Die Leute, bei denen ich wohne, sind wirklich sehr gute Freunde geworden. Das sind vor allem Feministinnen, sie haben mich sehr freundlich aufgenommen, das zieht mich an.
Ist Wien so etwas wie eine Heimat für Sie, trotz allem?
Nein. Ich mag das Wort Heimat nicht. Geburtsstadt.
Brauchen Menschen eine Heimat?
Nein. Ich glaube nicht. Also ich brauche keine. Wissen Sie, die Welt ist derartig voller Flüchtlinge und Migranten, mehr als je. Wenn alle diese Leute eine Heimat brauchten, dann wären sie noch schlechter dran, als sie sowieso sind. Ich bin kein Baum, ich brauche keine Wurzeln. In diesem übertragenen Sinne, dass die Kindheit Wurzel ist: ja. Aber das ist nicht dasselbe wie ein Boden. Ich habe Füße, keine Wurzeln, ich kann gehen. Sogar Auto fahren.
Als Sie 1947 in die USA emigrierten, nach New York kamen, hatten Sie Selbstmordgedanken.
An sich bin ich wohl ein depressiver Mensch. Das ist ein Grund zu reisen und weiter zu schreiben, man muss immer etwas zu tun haben. Ob diese Depressivität von den Lagern stammt, ist für mich schwer zu sagen. Aber sicher hat es ihr nicht gutgetan. Selbstmordgedanken hatte ich eigentlich in meinem ganzen erwachsenen Leben. Wenn ich in eine neue Stadt gekommen bin, habe ich immer überlegt: Wie bringt man sich hier am besten um? Meistens habe mich für etwas entschieden, was man im Amerikanischen autocide nennt, man fährt mit einem Auto mit voller Wucht gegen eine Wand. Das habe ich mir vorgenommen, und einmal habe ich zu meinem jüngeren Sohn gesagt, falls ich mich umbringen sollte, glaube nicht einen Moment, dass du etwas damit zu tun hast oder dass du es hättest verhindern können.
Wie hat er reagiert?
Er war ziemlich empört, dass man so mit ihm redet. Das will kein Kind hören. Es war das Falsche, trotzdem habe ich mir gedacht: Wenn jemand auf diese Weise stirbt, dann sind da immer Verwandte, die sich Vorwürfe machen. Das wollte ich vermeiden. Aber es war die falsche Art, es zu tun.
Wie ist es heute, denken Sie immer noch an Selbstmord?
Nein, in letzter Zeit habe ich das nicht mehr. Wenn man älter wird, hat man weniger von diesen Anfechtungen. Das Einzige ist, wenn man wirklich todkrank wird und sich nicht bewegen kann, dann vielleicht doch.
Was hat Sie dann doch immer weiterleben lassen?
„weiter leben“, also der Titel meines Buchs, nach dem auch der Film benannt ist, bedeutet: Man lebt weiter, wenn man nicht umgebracht wird. Das Leben selber kümmert sich um sich, takes care of itself. Man lebt einfach weiter, außer wenn ein Anstoß ist, und der muss schon sehr stark sein, dass man Schluss macht. Wenn der nicht da ist, lebt man weiter. Schlechter oder besser. Aber an sich ist es dann doch immer: Beschäftigung.
Sie haben im KZ Gedichte verfasst. Reime gemacht, wie Sie es nennen.
Das ist das Nächste, was ich veröffentlichen möchte, meine Gedichte. Obwohl ich nicht sicher bin, dass das jemand lesen möchte. Darf ich Schiller zitieren?
Bitte.
Ich tue es immer gerne. Schiller hat in einem Gedicht geschrieben: Was übrig geblieben ist von der Jugend, ist Freundschaft. Dann heißt es in der letzten Strophe: Und du, die gern mit ihr – also mit der Freundschaft – sich gattet,
Wie sie der Seele Sturm beschwört,
Beschäftigung, die nie ermattet,
Die langsam schafft, doch nie zerstört,
Die zu dem Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur um Sandkorn reicht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht.
Das ist schöner Schiller. Der hat nicht immer gute Verse gemacht, nicht so gut wie Goethe.
Was bedeuten Ihnen diese Verse?
Wenn man etwas macht und man ist versunken in eine Arbeit und man schaut auf und zwei Stunden sind vergangen, dann sind diese zwei Stunden von der Schuld der Ewigkeit gestrichen. Das finde ich ausgezeichnet. So lebt sich’s, man braucht was, man braucht unbedingt was. Das sage ich auch immer Leuten, die im Begriff sind, in Pension zu gehen: Find dir was!
Waren die Reime, die Sie gemacht haben, Ihre Rettung aus den Konzentrationslagern?
Ja, ich glaube schon. Also nicht nur die, die ich gemacht habe, sondern auch die, die ich aufgesagt habe. Jede Menge Schiller. Ich konnte sehr viele Gedichte auswendig, die habe ich mir immer wieder aufgesagt. Und ich habe selber welche verfasst.
Sie hatten nichts zu schreiben.
In Theresienstadt schon, später in Auschwitz und Christianstadt nicht. Die habe ich auswendig gekonnt und dann später, nach dem Krieg, aufgeschrieben.
Sie haben später Germanistik studiert.
Zuerst hatte ich Englisch als Hauptfach, dann habe ich geheiratet und Kinder gehabt, habe mich scheiden lassen, und dann habe ich auf Anhieb, ermutigt von dem aus Wien stammenden Literaturwissenschaftler Heinz Politzer, Germanistik studiert. Ich habe gedacht, das probiere ich jetzt mal für ein Jahr, und wenn es geht, dann wäre es schön, dann hätte ich noch einen richtigen Beruf und nicht nur einen Job. Und es ging.
Mit Ihrem Mann, dem deutschen Historiker Werner Angress, haben Sie nicht Deutsch geredet.
Wir haben nicht Deutsch geredet, obwohl wir Deutsch konnten.
Warum nicht?
Na ja, weil das die Sprache Deutschlands war. Das war damals sehr starr. Emigranten haben kein Deutsch geredet. Außerdem haben wir in einer englischen Umgebung gelebt. Es ist nicht ganz so ungewöhnlich, wie es klingt. Obwohl es bei Deutschsprachigen natürlich besonders stark war.
Für Sie war die Sprache belastet.
Sehr belastet, ja.
Trotzdem haben Sie Germanistik studiert.
Das war ein Umschwung. Ich war mir nicht sicher. Aber Heinz Politzer hat gesagt: Das können Sie. Und ich habe gesagt: Aber das ist die Teufelssprache. Und dann hat er gesagt: Wenn ich’s kann, dann können Sie es auch. Ich habe immer deutsche Bücher gelesen, mein Interesse war Literatur. Und Germanistik zu machen hat mir bessere Aussichten gegeben auf eine Stelle als Englisch, wenn man Einwanderer war. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereit, das zu tun. Das war schon um 1960 herum, also schon ziemlich viel später. Ich habe es sehr schnell gemacht und sehr schnell eine Stelle bekommen. Das war ein guter Markt für Stellensuchende.
Eine sehr nüchterne Entscheidung.
Ich hatte kein Geld, ich war geschieden, ich war alleinerziehende Mutter, ich habe sehr, sehr wenig Kindergeld bekommen, keine Alimente. Ich musste was verdienen.
Seit dem Ende der achtziger Jahre haben Sie neben Ihrem Wohnsitz Irvine in Kalifornien einen zweiten Wohnsitz in Deutschland, in Göttingen. Warum dort?
Ja, Göttingen. Für mich ist das so weit nördlich, wie man von Wien kommen kann und noch Deutsch spricht. Ich bin nach Göttingen gekommen, weil ich mich gemeldet hatte, um dort ein Studentenaustauschprogramm für die Universität von Kalifornien zu betreuen. Göttingen war für mich völlig unbelastet.
Anders als Wien.
Ich weiß im Kopf, dass Hitler praktisch um die Ecke deutscher Staatsbürger geworden ist, und ich weiß, dass nicht weit von Göttingen Bergen-Belsen liegt, wo ich hin verfrachtet worden wäre, wenn wir nicht geflohen wären auf dem Transport von Groß-Rosen, aber emotional und erinnerungsmäßig, subjektiv, hat Göttingen keine Nazi-Ausstrahlung. Ich war in dem Stadtmuseum, ich weiß, dass die SS dort aufmarschiert ist, genau so wie die SA, auf der Weender Straße und überall sonst, aber es ist nicht so, wie wenn ich hier über die Währinger Straße gehe, wo ich mit dem Judenstern gegangen bin. Es ist nicht dasselbe. Und das ist so interessant, wie das Objektive und das Subjektive da so auseinanderklafft.
■ Das Buch: 1988, nach einem schweren Unfall in Göttingen, schreibt Ruth Klüger ihre Lebenserinnerungen auf. „weiter leben. Eine Jugend“ erscheint 1992 und wird ein riesiger Erfolg. Klüger schildert darin ihre Kindheit als jüdisches Mädchen in Wien und in den Konzentrationslagern der Nazis.
■ Der Film: Mit „Das Weiterleben der Ruth Klüger“ (Österreich 1912) ist der Regisseurin Renata Schmidtkunz ein intimes Porträt Klügers gelungen.
Im Film, als Ihr Sohn nach Wien kommt, weil er die Orte Ihrer Kindheit sehen möchte: Da merkt man, dass es Ihnen richtig schwerfällt. Dass Sie da weg wollen.
Ja, da wollte ich weg. Es war sehr kalt. Und außerdem wusste ich nicht, was ich erzählen sollte. Diese Kinder sind ein anderer Teil meines Lebens, sie wissen eigentlich sehr wenig über mich.
Sie haben Ihren Kindern wenig erzählt von dem, was Sie erlebt haben.
Ja, man erzählt nicht so viel. Und die sind auch nicht derartig interessiert, in dem Film scheint es, dass sie sehr interessiert sind, aber es stimmt eigentlich nicht. Na ja, da klaffen unsere Meinungen auseinander, die der Kinder und meine.
Wieso kam der Sohn nach Wien?
Da wurde mein Buch „weiter leben“ von der Stadt Wien verteilt, es gibt dort eine Aktion „Eine Stadt, ein Buch“. Ich habe ihm das erzählt, rate mal, wie viele Exemplare. Und er sagte: 3.000. Nein, mehr. Der kam nicht auf 100.000. Als er das gehört hat, hat er gesagt: Das muss ich sehen. Na komm, ich finde dir eine Wohnung, ich mach, was immer du willst, bring die Kinder. Das war der Anlass. Ich war sehr stolz, ihn beeindrucken zu können, das war ganz naiv und primitiv.
Waren Sie verblüfft, dass „weiter leben“ so ein Erfolg geworden ist.
Na ja, klar. Das war ein Buch für die Göttinger, den Göttingern gewidmet. Ich habe nicht gedacht, dass es großartig darüber hinaus geht. Suhrkamp hat’s abgelehnt, und dann hat es der Wallstein-Verlag genommen.
In Deutschland, sagten Sie mal, haben Sie das Gefühl, die Leute denken, Sie bürden ihnen etwas auf. Die Amerikaner seien lockerer.
Die Amerikaner sind unschuldig. Das merke ich auch, wenn ich etwas Humorvolles sage: Die Amerikaner lachen, die Deutschen nicht.
Das verwundert nicht.
Das verwundert nicht, aber man kann es feststellen.
Wenn Sie zurück nach Kalifornien reisen, nehmen Sie Liptauer mit?
Nein, nein, um Gottes Willen. Dort kaufe ich mir ein paar reife Avocados und die wunderbaren Orangen, die wir dort haben, und gehe in ein mexikanisches Restaurant oder zum Japaner.
■ Felix Zimmermann, 38, leitet das sonntaz-Ressort. Im Restaurant aß er Spinatknöderl. Liptauer stand nicht auf der Karte
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