WAHLRECHT SPD, Grüne, CDU und Linke wollen das Wahlrecht wieder ändern – der Verein „Mehr Demokratie“ spricht sich klar dagegen aus: Umstrittene Änderungspläne
Jan Saffe, Grüne
von Klaus Wolschner
In knapp zwei Wochen will der Wahlrechtsausschuss der Bürgerschaft seine Vorschläge zur Veränderung des Wahlrechts bekannt machen. SPD, Grüne, Linke und CDU wollen, dass die Parteien wieder mehr Gewicht bei der Zusammensetzung des Parlaments bekommen sollen.
Von den Bürgerschaftsabgeordneten dieser vier Parteien sind 2015 insgesamt 37 aufgrund ihrer Platzierung auf den Parteien-Listen eingezogen, 35 sind über ihre Personenstimmen an aussichtsreichen Listenkandidaten vorbeigezogen. Das war vom Volksbegehren, das der Verein „Mehr Demokratie“ vor mehr als zehn Jahren organisiert hatte, so gewollt. Seit 2011 können Bremer WählerInnen entweder eine Listenstimme vergeben oder fünf Personenstimmen. Die Möglichkeit der Personenstimmen soll künftig erhalten bleiben, das Ergebnis aber anders in Sitze umgerechnet werden.
15 Abgeordnete, die ihr Mandat ihren persönlichen Stimmergebnissen verdanken, wären so nicht hineingekommen, dafür 15 andere, die auf den Listen ihrer Parteien gut abgesichert sind. Das geht aus einer internen Auswertung der Wahlrechtsänderung hervor. Raus wären etwa der Grünen-Abgeordnete Turhal Özdal, der inzwischen zur CDU gewechselt ist, oder Susanne Wendland, die bei den Grünen ausgetreten ist. Bei der SPD wären Jürgen Pohlmann und Mehmet Sirri Acar raus.
Den Bremerhavener SPD-Politiker Patrick Öztürk, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt und der einem Ausschluss durch seinen Austritt aus der Fraktion zuvorgekommen ist, wäre allerdings aufgrund seiner Personenstimmen auch nach der Reform noch drin. Die WählerInnen der Linken haben von ihrem Personenstimmrecht nur wenig Gebrauch gebracht – Sofia Leonidakis wäre raus, Anke Krohne wäre reingekommen.
Der Mechanismus, mit dem die Parteien ihren Einfluss auf die Auswahl der Abgeordneten stärken wollen, ist kompliziert. Jens Böhrnsen (SPD) etwa, 2015 noch amtierender Bürgermeister, bekam 94.000 Personenstimmen und war auf Platz eins der Liste. Soll sein Mandat als Listen- oder als eines der Personenstimmen gerechnet werden?
Bisher wurden erst die Listenmandate gezählt, danach kamen die der Personenstimmen. Das soll umgekehrt werden mit der Folge, dass die Mandate der Spitzenpolitiker auf der Liste als Personenmandate gelten. Bei der SPD würden so statt 16 nur vier oder fünf Abgeordnete aufgrund ihrer Personenstimmen in die Bürgerschaft kommen. „Müsste man nicht eine erneute Volksbegfragung machen, wenn man das Ergebnis der Volksbefragung infrage stellen will?“, fragt Jan Saffe (Grüne), der seinen Personenstimmen das Mandat verdankt.
„Dafür lohnt doch der ganze Aufwand des komplizierten Wahlverfahrens nicht“, sagt Paul Tiefenbach von „Mehr Demokratie“. Sein Verein will nach einem Beschluss der Bürgerschaft möglicherweise ein neues Volksbegehren auf den Weg bringen – gegen die Änderungen des Wahlrechts.
Dafür hingegen hatte der SPD-Landesvorstand klar votiert. „Demokratiedefizit“ nennt es der Fraktionsvorsitzende Björn Tschöpe, dass die Stimmen für Spitzenkandidaten – besonders ausgeprägt bei der SPD – ihnen nicht helfen, ins Parlament zu kommen, sondern jenen, die auf der Liste ganz platziert wurden. Nur weil die Spitzenkandidaten so viele direkte Personenstimmen bekommen, haben SPD-KandidatInnen mit 1.500 Personenstimmen die Chance, ins Parlament zu kommen.
Die Wähler können nicht wissen, welchen Effekt ihre Stimmverteilung hat. Im Falle von Thomas vom Bruch (CDU) war es sogar so, dass er über die Liste knapp nicht hineingekommen ist – weil es so viele Personenstimmen bei der CDU gab. Schon wenn er persönlich keine einzige davon bekommen hätte, wäre er „drin“ gewesen – über die Liste.
Solche paradoxen Situationen wird es nach einer Änderung des Wahlrechts aber auch geben, sie werden nur unwahrscheinlicher. Zur Minderung des „Demokratiedefizits“ schlägt der Verein „Mehr Demokratie“ vor, dass nur noch die Personenstimmen über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden. Das wollte aber keine der Parteien – weil sie dann keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments nehmen könnten.
Dann sollen sie eben keine KandidatInnen aufstellen, die sie nicht im Parlament wollen, kontert „Mehr Demokratie“. Aber weil es sich im Wahlkampf und für die Wahlbeteiligung gut macht, möglichst viele Kandidaten aufzustellen, wurde bisher auf den hinteren Plätzen „irgendwer“ aufgestellt, den die Parteizentralen eigentlich nicht wollten.
Prominentestes Beispiel ist der Grüne Robert Bücking, der von der Partei auf Platz 18 gesetzt worden war, dann aber mehr Personenstimmen bekam als Sozialsenatorin Anja Stahmann und fast doppelt soviel wie Umweltsenator Joachim Lohse – für „Mehr Demokratie“ ein Argument dafür, dass es sich lohnen muss, für Personenstimmen zu kämpfen.
„Weniger Demokratie“ bedeutet für den Verein auch die Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre. Dass Abgeordnete nicht ordentlich arbeiten könnten, wenn sie daran denken, dass sie wiedergewählt werden wollen, sei im Grunde ein antidemokratisches Argument, findet Paul Tiefenbach – mit dieser Begründung könne man die Wahlperiode ja auch auf zehn Jahre verlängern. „Mehr Demokratie“ will dazu aufrufen, bei der Bremer Volksabstimmung darüber am 24. September mit Nein zu stimmen.
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