kabinenpredigt: Kiontke am Ball
Die Leitlinien der großen Politik wurden gestern verabschiedet – das war ja klar. Aber für Typen wie mich, den Mittelstürmer des Berliner Alte-Herren-Bezirksliga-Spitzenteams SV Treptow 46 (bis Redaktionsschluss Tabellenführer), stehen die Zeiten – na logisch – meistens auf Sturm.
Das gilt für das ganze Team. Trainer Schwadorf findet: „Es wäre ja mal interessant zu wissen, wie unsere Spieler politisch gepolt sind. Fußballerisch sind bei uns ja wieder die alten Werte gefragt: Disziplin, Fleiß, Eigenverantwortung. Gerade wir, die ja bald nicht mehr gebraucht werden, machen uns fit für die kommenden schweren Jahre.“ Spielberechtigt in der „Alte Herren“-Liga ist man übrigens ab dem 32. Lebensjahr.
Schwadorfs Theorie: „Weil wir ja noch ein bisschen anpassungsfähiger sind, werden vor allem unsere Gegner, vornehmlich Berliner Unterschicht, den Verdrängungskampf in unserer Gesellschaft auf dem Fußballplatz zu spüren bekommen. Die vollendete Demoralisierung des Berliner Proletariats durch dahergelaufene, windige Existenzen wie uns – das ist ein schlechter Scherz des Schicksals“, kommentiert er mit Hinweis auf unsere uneinheitlichen Arbeitsbiografien. Und: „Entweder züchten wir uns Riesenbierbäuche an und lernen fließend Berlinerisch, oder wir gehen gleich zum Golf.“
Tolle Perspektive. Glaubt man Fußballtheoretiker Schwadorf, treibt der Neoliberalismus in den Gesellschaftsrändern – wie dem Amateurfußball – längst sein Unwesen: „Schon jetzt ist ja zu beobachten, dass sich im Fußball Parallelgesellschaften bilden. Die hippen Magnet-Mitte- und Werbeagenturen-Heinis veranstalten ihre eigenen Fußballturniere und halten sich für ganze Kerle mit ganz dicken Eiern, in die irgendsoein Schlächter von Victoria Tempelhof mit Vorliebe und auch ganz sachlich mit Stollen voran einschlagen würde.“
Welche politische Strategie schlägt der Mann vor? „Reclaim the game – beim Wort genommen: Wir werden eine Weile versuchen, unseren Arsch zu retten. So wie wir’s gelernt haben.“
Sage noch einer, Sport sei nicht politisch. Der Berliner zumal.
JÜRGEN KIONTKE
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