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kommentarVom Urnengang zum Urnenzwang

Gestern ist nicht nur der kürzeste Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik zu Ende gegangen. Es war auch die erste Wahl mit eingebautem Bekenntniszwang

Zunächst dachte ich noch, es läge halt an meinem Arbeitsplatz. In einer linkslastigen kleinen Tageszeitung besteht eben ein gewisser Redebedarf hinsichtlich politischer Themen, dachte ich. Wobei es natürlich zum guten Ton gehört, seine politischen Überzeugungen wie eine Monstranz vor sich her zu tragen – im Fahrstuhl, auf der Treppe und in den Konferenzen. Trotzdem wurde es mir zunehmend zur Last, einer offenbar unvermeidlichen Erkundigung auszuweichen: „Und was wählst du?“

Solange diese Frage in einem Raum stand, in dem genügend Leute nur darauf warteten, sie erschöpfend beantworten zu dürfen, konnte ich – gleichsam im Windschatten kollegialer Auskünfte – einer Antwort durch einfaches Klappehalten mühelos entgehen. Mir verbot eine vielleicht falsche Scham, meine politischen Entscheidungen öffentlich zu erörtern oder begründen zu wollen.

Dann aber fragten auch Freunde, Bekannte und irgendwann sogar meine Mutter das Unvermeidliche. Das Spiel ging immer so, dass mir fremde Wahlentscheidung unbestellt frei Haus geliefert wurden – und ich nun umgekehrt unter Zugzwang gesetzt werden sollte, doch endlich mal Farbe zu bekennen. Ich schwieg beharrlich weiter. Galt bald als rätselhafter Kauz, der aus seinem Herzen eine Mördergrube macht. Wie mein Großvater, der immer auf den „sowjetischen Spion“ Herbert Wehner schimpfte und Franz Josef Strauß für unseren „fähigsten Politiker“ hielt, hatte am Wahltag das Bekenntnis verweigert. Und SPD gewählt, heimlich, zeitlebens. FRA

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