: Von seltsam sturer Leidenschaft
RegionalismusDas Museum Europäischer Kulturen widmet sich in der 14. Ausgabe der Europäischen Kulturtage den friesischen Bewohnern der Niederlande und Deutschlands – ein kleine Friesenkunde
von Helmut Höge
Von den Bewohnern des „Mare Frisicum“ behauptete der römische Geschichtsschreiber Tacitus: „Frisia non cantat!“ Seitdem haben unzählige Volkskundler den Beweis erbracht, dass die Friesen nicht nur kaum eigenes Liedgut besitzen, sondern überhaupt wenig auf Dichtung und Literatur geben. Dafür haben sie wohl eine Begabung für die Mathematik: „Am ausgesprochensten ist der Sinn der Friesen für Rechnen“, schreibt der Friesenforscher Rudolf Muus. Erklärt wird dies vom englischen Historiker Michael Pye in seinem Buch „Eine Geschichte der Nordsee“ (2017) mit dem einst bis nach Bagdad reichenden Seehandel dieses Küstenvolks, das das „Geld neu erfand“. In London bedeutete das Wort „Friese“ im 7. Jahrhundert „Kaufmann“. Sie waren berüchtigt für ihre Geschäftstüchtigkeit.
Aber auch für ihren kollektiven Widerstandsgeist: Sie haben mehrere Schlachten gegen Adels- und Bischofsheere gewonnen und erfolgreich städtische Revolutionen durchgeführt. „Seltsam nahm sich Friesland unter den deutschen Territorien aus,“ schreibt der Groninger Historiker I. H. Gosses: „Kein Graf, keine Lehnsleute, fast keine Ritter, keine Unfreien, keine ummauerten Städte; ein Land freier Bauern“. In dem die „Amtsgewalt nicht von oben – von einem Grafen, der den König vertritt, sondern von unten, aus der Rechtsgemeinde“, hervorgeht, deren Bemühungen schließlich in das kodifizierte Stammesrecht „Lex Frisiorum“ münden.
Deutschland und Friesland wissen die Friesen bis heute sauber zu unterscheiden. So antwortete mir z. B. der Emder Bürgermeister, auf die Frage, was er früher gemacht habe: „Die bisherige ostfriesische Evolution verlief vom Bauern und Fischer über den Hafen- und Werftarbeiter zum VW-Arbeiter. Ich habe ebenfalls auf der Werft gearbeitet, aber dann auch in Deutschland: vier Jahre – in Köln, dann bin ich jedoch wieder nach Emden zurückgegangen“.
Diese Beharrlichkeit der Friesen erklärt die Forschung damit, dass sie in den Marschen auf von ihnen selbst geschaffenem Land siedeln: „Gott schuf das Meer – und die Friesen die Küste!“ So sagen sie es selbst. Diese wenig christliche, selbstbewusste Haltung im Verein mit ihrer Neigung zu Piraterie und Strandräuberei hat die Kirche lange Zeit vergeblich zu bekämpfen versucht, sie hatte dort dann auch mancherorts schon Schwierigkeiten, den Zehnt einzutreiben, auf Sylt z. B., und ihr altes heinisches Heiligtum Helgoland ist bis heute eine zoll- und steuerfreie Zone.
Wiewohl Bauern, Händler und Seefahrer, besteht die eigentliche Kulturleistung der Friesen in der Landgewinnung – durch den Bau von Deichen gegen die Flut und Sielen zur Entwässerung bei Ebbe. Das Husumer Nissenmuseum – einst von einem friesischen Auswanderer, der in Amerika reich wurde, gestiftet – ist deswegen auch vor allem ihrer Deichbau-Kunst gewidmet.
Ein anderer Auswanderer – nach Deutsch-Südwest-Afrika, Sönke Nissen, finanzierte sogar die Eindeichung eines ganzen nach ihm dann benannten Koogs (Polder in Westfriesland genannt), inklusive der darin errichteten riesigen Bauernhöfe. Und der Husumer Dichter Theodor Storm wurde nach seinem Tod vor allem mit seinem Deich-Drama „Der Schimmelreiter“ bekannt. Umgekehrt benannte man einen nach dem Zweiten Weltkrieg eingedeichten Koog nach seinem Novellen-Helden, den Deichprojektierer „Hauke Haien“.
Mit einer seltsam sturen Leidenschaft versucht dieses entlang der Nordseeküste und auf den Inseln bzw. Halligen siedelnde Volk allen Stürmen von See (aber auch allen Heeren von Land) die Stirn zu bieten. Inzwischen hat ihr „Projekt“ – über die Jahrhunderte hinweg – „etwas absolut Extravagantes“ im Sinne einer „poetischen Erfindung“, eines „Unternehmens von großer tragischer Thematik“ bekommen, wie der italienische Schriftsteller Giorgio Manganelli 1985 schrieb.
Schon den römischen Gelehrten Gajus Plinius Secundus hatten einst die Friesen ins Grübeln gebracht: dieses „armselige Volk“, das auf „hohen Erdhügeln“ in Schilfhütten lebt und mit „getrocknetem Kot“ seine kärglichen Speisen kocht, damit sich „ihre vom Nordwind erstarrten Eingeweide erwärmen“. Bei Flut, „wenn die Gewässer die Umgebung bedecken, gleichen sie mit ihren Hütten den Seefahrern; Schiffbrüchigen aber, wenn die Fluten zurückgetreten sind“. Dennoch wollten die Friesen sich damals partout nicht den reichen, viel zivilisierteren Römern unterwerfen: „wahrlich,“ schloss Plinius, „viele verschont das Schicksal zu ihrer Strafe“.
Heute sind jedoch die „Römer“ im Vergleich zu den Friesen arme Schlucker. Sozialhistoriker führen das darauf zurück, dass dieses Küstenvolk von Anfang an alles genossenschaftlich anging. Und das mit wenigen Worten. Bei Sturm geht der Friese auf den Deich und schaut schweigend über das tosende Meer. Während man sich z. B. in Süddeutschland, vor allem in Wien, lärmend auf der Couch wälzt – heißt es in Friesland: Wo Blanker Hans war – soll Ich werden! Schon Sigmund Freud griff bei der Beschreibung des Prozesses der Ich-Bildung auf eine friesische Deichbau-Leistung zurück, als er die Notwendigkeit zur Sublimation, d. h. der Kulturarbeit, mit der „Trockenlegung der Zuidersee“ verglich.
In einem Vortrag über „Die große und die kleine Welt“ – gehalten auf dem 15. Friesenkongreß in Aurich – bezeichnete der Philosoph Hermann Lübbe den „Regionalismus“ als ein „Ringen um Heimat“, dem eine wichtige kompensatorische Funktion angesichts der sich beschleunigenden „zivilisatorischen Innovation“ zukomme. In der Zeitschrift Nordfriesland widersprach ihm daraufhin der Kieler Soziologiestudent Harm-Peer Zimmermann, der eine „Analyse des Wesens des Heimatgefühls“ sowie eine „historische Ableitung der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung“ des von Lübbe konstatierten „Vertrauensschwunds“ und „Identitätsverlusts“ vermisste. „Wie in Gorleben“, behauptete der Student demgegenüber, „so entsteht Identität überall in der Auseinandersetzung mit dem Alltag. Das Glück stellt sich nicht durch einfache Erinnerung der Vergangenheit ein.“ Das war – 1982/83 – durchaus noch klassen- und minderheitenkämpferisch gemeint – und vor allem gegen „Musealisierungen“ gerichtet.
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