Ein Rückblick auf Musikgeschichte: Der Sound der Nordseite
Es gab eine Zeit, da war Hip-Hop aus Bremen und Bremerhaven ganz weit vorn in Deutschland – einige der damals Beteiligten sind es bis heute.
Die aktuelle Rap-Szene in Deutschland ist großstädtisch geprägt: Frankfurt mit Azad, Schwester Ewa und Haftbefehl, natürlich Berlin mit Bushido, Sido, Fler und den vielen anderen. Allenfalls Bonn schickt sich an, mit Xatar und SSIO im Reigen der großen Metropolen mitzuspielen. Das war nicht immer so: Bestimmte in den späten 1990er-Jahren eine Achse von Hamburg über Stuttgart bis nach München wesentlich die deutsche Rap-Szene, waren es davor, in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren – also in der Entstehungsphase von Hip-Hop in Deutschland –, kleine und mittlere Städte gewesen: Euskirchen (mit der Crew LSD), Gießen (DJ Cutsfaster, Scid da Beat), Heidelberg (Advanced Chemistry, Stieber Twins), Mainz (das Label MZEE), Kiel (Cora E, Da Crime Posse, Battle Squad) oder auch Ratingen-West (Fresh Familee), die den Ton angaben. Und mittendrin, wenn auch nicht geografisch: Bremen und Bremerhaven.
Mitte der 1980er-Jahre war der große Breakdance-Boom – mit der Rock Steady Crew bei „Wetten dass…?!“ und einer wöchentlichen Fernsehsendung im ZDF, moderiert von Eisi Gulp, sowie einer Bravo-Sonderausgabe zum Thema, das sich auch in zahllosen Fußgängerzonen begutachten ließ – wieder in sich zusammengebrochen. Nur wenige blieben übrig, die weiterhin an die Hip-Hop-Kultur glaubten, hier und da ein kleines Grüppchen, manche machten auch ganz allein für sich weiter. Auf der Straße machten sie einander sofort aus: der besondere Kleidungsstil, die Art sich zu bewegen. DJ Cutsfaster aus Gießen habe er 1987/88 auf einem Autobahnrastplatz kennengelernt, erinnert sich DJ Stylewarz, Bremerhaven, an eine typische Begegnung dieser frühen Hip-Hop-Jahre: „Man erkannte sich an den Schuhen.“ Auf diese Weise wurden allmählich wieder Kontakte geknüpft und die Idee entstand, sich seine Partys selbst zu organisieren.
Guter Standort
Bremen hatte im Vergleich zu anderen Städten zwei Vorteile, zum einen den Stützpunkt der US-Armee in Bremerhaven und ab Dezember 1986 eine Radiosendung: Bei Dr Nox auf Radio Bremen 4 war regelmäßig Hip-Hop zu hören und es wurde auf Veranstaltungen in der Umgebung aufmerksam gemacht. Hier lief auch der erste selbstproduzierte Mix des damals 15-jährigen Michael Whitelov aka DJ Stylewarz, der später mit der Gruppe No Remorze bekannt werden sollte. Und von Dr Nox, der eigentlich Wolfgang Hagen hieß, erfuhr er auch, dass im Jugendzentrum Horn-Lehe eine Hip-Hop-Jam stattfinden würde, Bremens erste, irgendwann 1987 war das.
Es kamen mehr als 500 Leute, aus Bremen und Bremerhaven, aus dem gesamten Umland, aus Hamburg und Kiel. Die nächsten überregionalen Jams fanden in Dortmund und Mainz statt, bis die „Spring Jam“ im Frühjahr 1992 annähernd 5.000 Fans aus Europa und den USA nach Frankfurt/Main lockte.
Zu den Organisatoren der ersten Bremer Hip-Hop-Jam gehörte auch Matthias Zähler. Er arbeitet seit vielen Jahren für Radio Bremen 4 und ist gerade am Aufbau der neuen Radiowelle „Bremen Next“ beteiligt, auf der nun regelmäßig und Tag für Tag Hip-Hop und Rap-Musik zu hören ist. Die Plakate und Flyer hatten sie damals selbst entworfen, in einem Copy-Shop vervielfältigt und dann verteilt, so gut ihnen das möglich war. Die Ankündigung von Dr Nox sorgte dafür, dass auch Leute aus dem weiteren Umkreis kamen, Swift und Storm aus Eutin beispielsweise, die legendären „Battle Squad“-Gründer und späteren Breakdance-Weltmeister. Aber auch GIs vom US-Stützpunkt in Bremerhaven standen auf der Bühne, zum Beispiel George Jones alias Sir Prophet, der Anfang der 1990er-Jahre mit der Band Mr President sehr bekannt werden sollte. In Horn-Lehe trat er als Human Beatboxer auf: Mit seiner Stimme imitierte er komplexe Rhythmen und Hip-Hop-Beats.
In den 80er-Jahren war eine solche Hip-Hop-Jam kein Konzert, sondern eher ein bunter Marktplatz, eine Messe, auf der sich jeder oder jede mit seinen Skillz, ihren besonderen Fähigkeiten präsentierte. Die DJs sorgten für die Beats, zu denen gerappt und getanzt wurde, andere zeigten Blackbooks mit ihren neuesten Graffiti-Entwürfen darin – und den Fotos von tatsächlich besprühten Wänden und Zügen. Es wurde gefachsimpelt und gestritten, neue Kontakte und Freundschaften entstanden. Natürlich waren auch bloße Fans dabei, doch die meisten waren in der einen oder anderen Hip-Hop-Disziplin eben selbst aktiv.
Noch im selben Jahr gründeten Matthias „Ma“ Zähler und Ralf Pauli die Band Lyrical Poetry. Seinen ersten, auf Englisch geschriebenen Text hatte Ma noch auf das Instrumental eines Ice-T-Songs gerappt: „Damit das anders klingt, habe ich die Platte einfach auf 33 statt auf 45 Umdrehungen ablaufen lassen. Und dann hatte ich natürlich keine Möglichkeit, das richtig aufzunehmen, also habe ich einen Radiorekorder genommen mit eingebautem Mikrofon und mich damit vor die Box meiner Anlage gestellt. Das Instrumental kam also aus der Box, und ich habe dazu gerappt. Ich habe dann noch versucht, das mit den Lautstärken einigermaßen abzustimmen, und das war er dann: mein erster Rap. Und alle fanden das richtig geil.“
Krauts mit Kontakten
Nachdem dieser erste Schritt getan war, nahmen Lyrical Poetry einen Kredit auf, um sich das nötige Equipment für die Musikproduktion kaufen zu können. Für den letzten Schliff brauchte es damals dennoch ein professionelles Studio, und so landeten die drei – inzwischen gehörte auch DJ Goldfinger (Stefan Heilek) dazu – bei Vicente Celi. Der war zwar selbst kein Hip-Hopper, aber in der Bremer Studioszene musikalisch am nächsten dran. Gemeinsam nahmen sie „Poetry of an Alien“ auf, das 1991 auf dem Sampler „Krauts with Attitude“ erschien, einem ersten Überblick über die Hip-Hop-Szene in Deutschland. 1992 waren Lyrical Poetry als Support Act mit den New Yorkern Gang Starr, mit Guru und DJ Premier auf Deutschland-Tournee. Bald darauf erschien ihr erstes Album: „the s.m.i2.l.e. album“.
1994 folgte der nächste Meilenstein in der Entwicklung der Hip-Hop-Szene in Bremen, und seine Wurzeln reichen zurück nach Horn-Lehe: Matthias Zähler, Ralf Pauli und der Brmerhavener Graffiti-Sprüher Dee One gründeten gemeinsam mit Vicente Celi – den die örtliche taz später immerhin mal zum „Paten der Bremer Hip-Hop-Szene“ adelte – das Plattenlabel Operation 23. Sie wollten endlich eigenständig und unabhängig von den Wünschen und Meinungen der Plattenindustrie arbeiten können.
Als erste Veröffentlichung kam dort mit der „Nordseite“ ein Sampler heraus, der die Vielfalt zeigte, in der sich die Bremer Hip-Hop-Szene seit der ersten Jam entwickelt hatte. Neben der Old-School-Legende Mad Mark, Lyrical Poetry und der Crossover-Band Saprize, deren Sängerin Sandra Nasic später mit den Guano Apes weltbekannt werden sollte, sind hier die ersten Songs zu hören von Cribb 199, von Zentrifugal – und FAB., der „Freaks Association Bremen“, also Ferris MC und FlowinImmo. Auch wenn sich jene Band bereits 1997 wieder auflöste, sind die beiden Rapper bis heute in der Hip-Hop-Szene aktiv. Bas Böttcher wiederum, der Rapper der Gruppe Zentrifugal, hat die Poetry-Slam-Szene in Deutschland mit aufgebaut und gehört bis heute zu ihren prägenden Stimmen. Er ist als Rapper, Lyriker und Performance-Poet weltweit unterwegs und hat es in bedeutende Anthologien und sogar Schulbücher geschafft.
Cribb 199 wurden 1995 deutschlandweit bekannt durch zwei TV-Dokumentationen im ZDF: „Zwischen Knast und Palast – Die Grenzgänger des Gangsta Rap“ und „Die letzte Chance“. Auch wenn die beiden Filme einfühlsam die Lebensgeschichten von Ali, Aydin und Mic.Mee erzählen, den drei Hauptprotagonisten der Cribb, so sind ihr eigentliches Thema doch die Lebensverhältnisse in den Bremer „sozialen Brennpunkten“, mit voyeuristischer Freude überhöht und grob verallgemeinert – ein Verfahren, das seitdem viele Dokumentationen wiederholt haben. Damals wie heute liefert Rap den passenden Soundtrack, weil Rap als die authentische Musik aus den sozialen Randlagen gilt.
Was gern übersehen wird: Die großen Medien akzeptieren gemeinhin nur solchen Rap als authentisch, der die Vorurteile und Klischees der Mehrheitsgesellschaft bestätigt, und der dann als Beweis angeführt wird, wie anders diese Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft doch sind. Die leiseren, kritischen Töne kommen in solcher Berichterstattung nur selten vor.
Aber auch davon hätten die Cribb einiges zu erzählen gehabt: Mic.Mee, einst Heim- und Flüchtlingskind, arbeitet heute in einer betreuten Einrichtung für psychisch kranke Jugendliche. Seine ersten Erfahrungen im sozialen Bereich machte er bei den Rap-Workshops, die er gab – im Jugendzentrum Horn-Lehe. Hier wurde er angesprochen, ob er sich dieser intensiven Arbeit mit Jugendlichen nicht beruflich widmen wolle. Er holte seine Ausbildung nach und macht heute Musik nur noch nebenbei, komplett ohne kommerzielle oder sonstige Zwänge. In der Bremerhavener Jugendarbeit hat sich zeitweise auch Dj Stylewarz verdingt, wenn das Geld knapp war.
Nicht alle sind weg
Viele aus dieser ersten und zweiten Bremer Hip-Hop-Generation sind inzwischen weggezogen, nach Hamburg oder nach Berlin. Kaoz, eigentlich Mario Schoppe, der zweite DJ von No Remorze, ist immer in Bremerhaven geblieben. „2007 bis 2010 habe ich so gut wie keine Musik gemacht, da ich erst mal wieder die Schulbank gedrückt habe“, sagt er der taz. 2011 war Kaoz Mitgründer des Labels Sicknoize Records, das bis heute besteht und nach mehreren rein digitalen Veröffentlichungen inzwischen auch Vinyl herausbringt.
FlowinImmo ist vor Kurzem wieder zurückgekommen in seine Heimatstadt und hat „Die komplette Palette“ (http://dkp.online) gestartet: eine mobile, temporäre und offene Bühne aus Euro-Paletten. Sie stand erst mal bis September 2016 im Hemelinger Hafen, Ende Mai begann die zweite Runde; bespielt wird sie auf vielfältige Weise: Konzerte, Theater, Tanz, Literatur, dazu Workshops für Kinder und Jugendliche – die komplette (kulturelle) Palette eben.
Auch wenn Hip-Hop aus Bremen und Bremerhaven nicht mehr im Fokus des Interesses stehen: Die Szene lebt, in Jugendzentren und Proberäumen, Kellerstudios und auf der Straße. Glauben Sie nicht? Dann bitte: „Chill-out-street lounge“, 10. September, 11 bis 17 Uhr; Galerie Goethe45, Goethestraße 45, Bremerhaven-Lehe. Um 15 Uhr Ausstellungseröffnung „For your eyes only“ mit Arbeiten der Graffiti-Maler Skion, Marok und Thoe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!