heute in hamburg: „Eine überlebte Kategorie“
Buchvorstellung Der Historiker Wildt über die AfD und die Kategorien Volk und Volksgemeinschaft
Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der Humboldt Universität Berlin.
taz: Herr Wildt, erleben wir eine Renaissance des Begriffs Volk als politische Kategorie?
Michael Wildt: Ja, weil populistische Bewegungen das Wort sehr stark verwenden und das Volk als Ordnungsmacht verstehen.
Zu der Bewegung ordnen Sie auch die AfD?
Die AfD konstruiert das Volk kulturalistisch. Doch wenn man genauer hinschaut, wird dahinter die ethnizistische Konstruktion sichtbar. Die angeblich deutsche Kultur wird bei der AfD ethnisch verstanden – und politisch gefordert.
Muss die AfD in ihrer Substanz also als völkisch-nationalistisch verstanden werden?
So ist es. Obwohl sich die Parteiführung nach außen von völkisch-nationalistischen Äußerungen abgrenzt, hat diese Sichtweise breiten Raum in der Partei. Deutschsein heißt in der AfD nicht irgendein Liederkränzchen, sondern ist völkisch grundiert. Der Satz, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, widerspricht dem Grundgesetz, dem zufolge niemand wegen seiner religiösen Anschauungen diskriminiert werden darf. Soll der Friedenspreisträger Navid Kermani nicht mehr zu Deutschland gehören? Oder die türkische Familie von nebenan, die jetzt schon in dritter Generation hier lebt? Hier errichtet die AfD eine Grenze.
In Ihrem Buch räumen Sie ein, dass es für einen Nationalsaat immer einer Konstruktion des Volkes bedürfte.
Ja, das Volk ist stets ambivalent. Und wir sollten uns hüten, allzu selbstgewiss von einem demokratischen Volk auszugehen. Volk und Bevölkerung waren und sind nie deckungsgleich, denken sie nur an das Wahlrecht: nicht alle, die hier leben, dürfen wählen. Das Volk der amerikanischen Verfassung und der französischen Aufklärung, auf die wir uns positiv beziehen, schloss Frauen, die indigene Bevölkerung und die schwarzen Sklaven aus. Dieses Volk bestand aus weißen Männern und bildete eine Minderheit.
Welche Debatte außer über Flüchtlingspolitik hat diese Renaissance des Volkes noch befeuert?
Sicher die Diskussion um eine deutsche Leitkultur, also die Frage, was heute deutsch ist.
Sie schlagen ein Umdenken vor.
Die Kategorie Volk ist nicht tot, aber sie hat sich überlebt. In den Mittelpunkt unseres Denkens, schlägt Arendt vor, sollten vielmehr Menschen gestellt werden, die das Recht haben, Rechte zu haben. Wir sollten auf konkrete individuelle Menschen schauen und uns nicht in überholte Debatten um Volkszugehörigkeit verstricken.
Interview Andreas Speit
Buchvorstellung „Volk, Volksgemeinschaft, AfD“: 19 Uhr, Hamburger Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36
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