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StadtgesprächDie Abrissbirne schwingt

In Russlands Hauptstadt sollen alte Wohnblocks zu Tausenden fallen. Wer profitiert? Nicht die Bewohner

Klaus-Helge Donath aus Moskau

Er hatte sich das alles einfacher vorgestellt. Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin wollte die Bürger mit dem Versprechen überraschen, sie in ein gigantisches Wohnungsbauprogramm einzubinden. Dafür würden sie ihm dankbar sein.

Das Projekt „Renowazija“ soll für rund 1,5 Millionen Moskauer neuen Wohnraum schaffen. Vorher sollen mehr als 4.500 Bauten abgerissen werden. Vor allem „Chruschtschowki“, fünfstöckige Wohnblocks, die seit Ende der 1950er KP-Generalsekretär Nikita Chruschtschow errichten ließ. Zwölf Tage Bauzeit für einen Plattenblock. Die Wohnungen waren klein, eng und bescheiden, boten jedoch vielen Menschen, die zuvor in Wohnheimen leben mussten, erstmals ein Stück Privatsphäre.

Statt vom Verschwinden dieser Wohnblocks begeistert zu sein, begegneten viele Bewohner dem neuen Projekt mit Misstrauen. Russlands Bürger seien es nicht gewohnt, dass der Staat Gesetze erlasse, um sie glücklicher zu machen, argwöhnten Kritiker. Im März, zwei Wochen nach Bekanntgabe des Vorhabens, legte das russische Parlament, die Duma, ein Gesetz vor, um es ohne öffentliche Diskussion abzusegnen.

Das Gesetz war noch nicht verabschiedet, da wurden die Listen von Abrisshäusern schon erstellt. Eine Steilvorlage für Willkür. Hinter der Formulierung „Mehrfamilienhäuser aus der ersten Phase des industriellen Wohnungsbaus“, die für Abriss vorgesehen sind, kann sich allerhand verbergen. Wäre es beim ersten Entwurf geblieben, hätte der Bürgermeister die Stadt auch komplett schleifen können.

Der Protest schwoll an, und die Duma nahm mehr als 70 Änderungen in das neue Gesetz auf, als es diese Woche verabschiedet wurde. Notgedrungen. Es wird jetzt Wohneigentum garantiert und Abrissopfern eine neue Bleibe im selben Bezirk versprochen. Städtebauer warnen jedoch: Die neuen Bauten seien von außen zwar ansehnlich, innen glichen sie aber den „Chruschtschowki“.

Jelena Rusakowa, Abgeordnete in der Gagarin-Bezirksverordnetenversammlung, setzt die „Lex Renowazija“ mit einem „Gesetz zur Deportation“ gleich. Einfache Mieter müssten vor die Tore der Stadt auf die grüne Wiese ziehen. Gemeinschaftlicher Besitz werde gestohlen. Die alten Grundstücke liegen meist in teuren innenstadtnahen Wohngegenden.

Auch die Enteignung von Wohnraum hält die Abgeordnete weiterhin nicht für gebannt. Vielmehr sind Seilschaften von Richtern, Baubranche und Ordnungshütern damit beschäftigt, nach bürokratischen Lücken und Streitfällen zu suchen, um sich Immobilien unter den Nagel zu reißen. Bürgerini­tiativen haben sich gegründet.

Der Russe an sich ist eher misstrauisch, dem Staat traut er alles zu außer Wohltaten. Vertrauen entsteht zwischen beiden nur kurzzeitig. Etwa dann, wenn er im Schulterschluss mit dem Staat fremdes Territorium erobern darf. Danach geht wieder jeder eigene Wege.

Moskaus Bürgermeister hatte sich also verkalkuliert. Er handelte nach dem Motto: der Moskauer wird’s schon schlucken. Am Ende musste er doch das Volk einbeziehen. Viel hätte nicht gefehlt und aus dem zivilen Konflikt wäre ein politischer geworden. Präsident Wladimir Putin segnete das Projekt zwar ab, ging beim ersten Protest indes auf Distanz. „Der Kreml? Damit hat er nichts zu tun!“, lautete das Signal.

Inzwischen nahmen die Bewohner von 4.546 Häusern an einer Abstimmung teil, die der Bürgermeister vor Monatsfrist ansetzte. In 4.082 Gebäuden entschieden sie sich für Abriss, in 452 dagegen. Letztere sind meist solide Ziegelbauten in Citynähe. 71 Prozent der Wahlberechtigten nahmen an der Abstimmung teil. Ein klares Ergebnis, das in der Tendenz wohl zutrifft. Die Mehrheit möchte einfach besser leben als jetzt.

Das möchten auch die Initiatoren des Mammutbauprogramms, das mit 55 Milliarden Euro veranschlagt ist. Die russische Wirtschaft wirft auf Jahre hinaus ansonsten nicht mehr viel ab. Unternehmer und Beamte – oft in Personalunion – haben für die nächste Zeit erst einmal ausgesorgt.

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